Heidi Antal zum 60. Geburtstag  

Eine Laudatio
Von Eckhart Pilick

Aus Berlin und Rheinstetten, Straßburg und Karlsruhe, von Frankreich bis Forchheim und sogar aus Irland und Kämpfelbach-Ersingen sind wir gekommen, weil das Heidi gerufen hat, Freunde sämtlich, die den Weg auf den verschiedenen Stationen ihres Lebens gekreuzt oder sie ein Stück begleitet haben, eine zunächst disparate Ansammlung Einzelner, die nun durch den Bezug zu dem Heidi als ihrem Sonnenschwer- und mittelpunkt einen Kreis, einen Orbis, eine Gemeinschaft, bilden.

Gemeinschaft ist für Heidi Antal immer von höchster Priorität gewesen (das sagt sie selber). Deshalb sei sie Lehrerin geworden, obwohl sie als Kind ganz andere Träume hegte: Mit 10 wollte sie nämlich Marktfrau werden. Bis heute hat sie Eigenschaften entwickelt, die sie in diesem Beruf zu den schönsten Hoffnungen berechtigt hätten. Sachen verkaufen, etwas an den Mann bringen, gar nicht um Geld zu verdienen (ökonomische oder pekuniäre Interessen besaßen von Anfang an einen äußerst niederen Stellenwert in ihrem Denken und Handeln), sondern um die Leute von irgendetwas zu überzeugen - notfalls mit Geschrei.

Die Reduktion auf den sichtbaren Horizont bzw. die tagespolitische Problematik (Heidi würde von ihrer Engstirnigkeit sprechen), gehört dazu. Und die ist (als Quelle ihres Aktionismus, durch den sie sich oft kurzsichtig in allerlei Konflikte verhakt), wenn auch in geringem Maße, unserer Freundin eigen, ohne dass sie fanatisch oder dogmatisch wäre. Dazu ist sie - auch sich selbst gegenüber - viel zu ehrlich. Ausgenommen beim Kartenspiel.

"Prima Messina-Blut-Apfelsinen! Sie müssen kaufen!" schrie das Kind einst die Passanten lauthals an, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Oder ein anderes Beispiel:

Als reifere Frau beim SPD-Bundestagswahlkampf im Bezirk Karlsruhe Land für den Politiker Roth kam sie auf die Idee, im Spätsommer von Tür zu Tür zu gehen und den Leuten kleine Tomatensetzlinge zu überreichen mit dem Aufdruck "Im Herbst ist die Tomate Roth". Der Abgeordnete wurde von der überwiegend schwarzen Bevölkerung wirklich gewählt. Heidi hatte in der dortigen Region zusammen mit ihrem Mann übrigens die Mitgliederzahl der SPD in kurzer Zeit verdoppelt: Es gab nun vier statt wie zuvor nur zwei Mitglieder. In Folge wurden dann in den Ortsverein Neuburgweier sämtliche bereits verstorbenen Mitglieder wieder aufgenommen, um so die Grundlage zu schaffen für die Kandidatur Heidis zum Gemeinderat und zum Bundestag. Damals pflegte sie sich von ihrer Familie - leise, um Deszö nicht zu wecken - zu verabschieden mit den Worten: "Tschüss, ich muss zur SPD." Wenn sie abends wieder kam, drehte sich Deszö im Bett herum und fragte: "Zu was biste heute gewählt worden?" Der Ortsverein existiert übrigens heute noch.

Sachen verkaufen, Ideen, Wertvorstellungen - der Weg vom erträumten Berufsziel Marktfrau bis zur engagierten und von der Schule bald völlig absorbierten Pädagogin ist folgerichtig. Konsequent ist sie immer gewesen und couragiert. Ihr Leben lang hat sich das Mädchen geprügelt, stets nur mit Stärkeren, versteht sich, als Kind mit Fäusten, später mit geschliffenen Worten. Blessuren blieben nicht aus. Sie wurde immer gerufen, wenn jemand Hilfe brauchte, und sie hat schon als Schülerin anderen Angst einjagen können. Beim Spielen - auch nach 1945 wurde noch Krieg gespielt und so vielleicht schmerzliche Erfahrung verarbeitet - durfte sie immer "Krieger" sein. So hat sie sich noch als 14jährige gebalgt und geprügelt, später mit Behörden und Autoritäten angelegt. Kurz vor der Pensionierung hat sie sich noch ein Disziplinarverfahren eingehandelt, das freilich niedergeschlagen wurde.

Wer glaubte, ihr eins überbraten zu können, bekam's mit ihr zu tun. In Berlin verfügte sie über eine solche Trotzmacht des Geistes, dass sie eine Schulrätin, die ihr Knüppel vor die Beine zu werfen pflegte und trotzdem uneingeladen zu ihrer Abschiedsfeier von Eltern und Kollegen erschien (ich glaube, sie ist auch heute unter uns), um eine nichtssagende Rede zu halten, anschließend zum Gaudi der Gäste in eine Kompostgrube fallen ließ - wie gesagt allein durch die Kraft ihres Geistes. Der stand ihr (wie früher die Faust) immer zur Verfügung, nicht selten zum Ärger der Behörden. Die hatten ihr doch einmal verboten, ihr Erich-Fried-Gymnasium einen Tag der offenen Tür feiern zu lassen. Heidi, aufmüpfig und gesetzestreu in einem, organisierte prompt eine "Nacht der offenen Tür". 1,7 Millionen BILD-Zeitungs-Leser Berlin-Brandenburgs erfuhren anderntags davon. Heidi hatte wieder die Lacher auf ihrer Seite und das Schulamt gegen sich. 

Den Direktor des Andreas-Gymnasiums nannte sie in einer öffentlichen Sitzung einen Autisten, und Heidi wurde deshalb zu einer schriftlichen Entschuldigung verdonnert. Das tat sie denn auch schriftlich, freilich so, dass nach der Lektüre ihres Briefes sogar der Beleidigte zu der Einsicht gelangen musste, er sei wirklich ein Autist. (Ich glaube, auch er ist heute anwesend).

Wie war das noch damals in Straßburg, als du einen Einbruch angestiftet, organisiert und gedeckt hast? Der Fall wurde aktenkundig, der Staatsanwalt war aber letzten Endes auf euerer Seite, denn es ging um eine echte Hilfeleistung. Monsieur Perrin, der Delinquent und damalige stellvertretende Schulleiter, ist heute wirklich unter uns. Der 17jährige Schüler Nicolai am Straßburger Lycée de Pontonnier wurde von seiner hysterischen und gewalttätigen Mutter seit 15 Jahren dem Vater vorenthalten. Der wolle sein Kind umbringen, erzählte sie dem Jungen. Mit dessen Zustimmung gewährte Heidi Antal ihm kurz Asyl, brachte ihn widerrechtlich ohne Pass über die Grenze und ermöglichte so das lang ersehnte Wiedersehen mit dem Vater in Düsseldorf. Danach ließ die Mutter ihren Sohn aber nicht mehr in die Wohnung, schrie die übelsten Beschimpfungen gegen Heidi auf offener Straße, gab ihr während der Probe für Klabunds "Kreidekreis" vor versammelten Mimen und Statisten eine schallende Ohrfeige, was in den Schülern die Begeisterung für das Theater weckte, weil sie dachten, das gehöre zur Rolle, und zu einer Anzeige Heidis wegen Körperverletzung und einer Anzeige der Mutter beim Kultusministerium gegen Heidi wegen Verführung Schutzbefohlener. Heimlich und krimihaft haben unterdessen unter dem Kommando unserer Heldin Heidi Herr Perrin mit Sohn samt besagtem Nicolai die Wohnung der Rabenmutter aufgebrochen, um die dringend nötige Kleidung und Schulsachen des armen Jungen zu erbeuten ..

"Ich war", hat mir Heidi einmal in ihrer typischen maßlosen Ehrlichkeit geschrieben, die ihr eigen ist (außer beim Kartenspiel) und ihrer Bescheidenheit, die nur solche Persönlichkeiten an den Tag legen, die sowieso sicher sein können, dass sie beachtet und geachtet werden, "ich war immer eng und beschränkt, niemals die Gebildete und weit Vorausblickende, die Abwartende und Abwägende. Wo i c h stand, war der Mittelpunkt. Das wollte ich auch sein, und wenn ich es war, dann voll und ganz." Vielleicht wurde ihr lebenslanger Kampf gegen Autoritäten u. a. von dem Wunsch gespeist, niemanden über sich zu dulden?

Solche Menschen übernehmen sich immer. Sie wollen mehr leisten, als ihrer Konstitution gut tut und ihre Kräfte erlauben, natürlich nicht für den Eigennutz - da sind die eigenen Ansprüche eher karg. Solche Menschen brauchen notwendig andere, die ihnen helfen. Und so schrieb mir Heidi Antal: 
"Diejenigen, die gesehen haben, wie ich mich abstrampelte, denen bewusst wurde, dass man mich bei meinem Einsatz unterstützen, dass man mir helfen muss, die möchte ich gern im September nach Buckow einladen."

Das sind also Sie, das seid Ihr.

Doch nicht Sie sollen, sondern Du, Heidi, sollst im Mittelpunkt stehen, vielleicht mehr als dir lieb ist. Denn ich möchte aus Quellen zitieren, die die Forschung noch nicht erschlossen hat und die aus Datenschutzgründen auch nicht verbreitet werden dürfen: 4 Aktenordner mit Briefen unserer Jubilarin aus ihrer Kindheit und Jugend an ihren Vater. 

Ferner werde ich ab und zu aus dem Werk HEIDI - KARRIEREN EINER FIGUR. Hrsg. von Ernst Halter. Zürich 2001, zitieren.

Außer auf diese frühen Autographen und jenes Buch stützt sich mein kurzer Abriss auf Zeitungsartikel, Protokolle diverser Staatsanwälte sowie auf verschiedene mündliche und schriftliche Mitteilungen von Personen, die auf keinen Fall genannt sein wollen (wie z.B. Sibylle Antal und Monsieur Perrin). So versuche ich synoptisch ein Gesamtbild ihres Wesens zu zeichnen, das jedem Einzelnen von uns ja immer nur in einigen Facetten bekannt geworden ist. -

Das Kind wächst mit den Geschwistern nach dem Tod der Mutter Weihnachten 1945 im Waisenhaus "Vogelnest", später "Lerchennest", in Lichterfelde auf.

Aus dem Waisenhaus schreibt unser Mündel dem kriegsheimgekehrten Vater als erstes beglückt:

"Wir haben alle schön zugenommen." (13.3.46). Drei Monate später bekräftigt sie:
"Wir haben schon tüchtig zugenommen, Bollum wiegt 90, Walter 78, ich wiege 50". Eine beachtliche Leistung in einer Zeit, in der wir mit Mais und Steckrüben ernährt wurden. 

Diese Tendenz zur Gewichtszunahme hält weiter an.

Zu Weihnachten bekam sie:
"vom Kinderheim eine tute Susichkeiten ... eine Federtasche von Tante Schlüter ... ein Buch vom amerikanischen Weihnachtsmann ... ein Pekchen Sisichkeiten ... ein Zahnbecher und eine Zahnburste (sowie) eine kleine Puppe" (31.12.46).

Der Heim-Schwester Margarete verdanken wir die erste Charakterisierung Heidis und ihrer Schwester Brigitte. Sie teilt dem Vater am 16.9.1947 mit:
"Heidi ist ein sehr anschmiegsames, fröhliches Kind, aber sehr empfindlich und kann Ermahnungen nur schwer ertragen. ... Brigitte ist ein Sorgenkind. Beide Kinder sind nicht an Gehorsam gewöhnt." Das muss den preußisch erzogenen und ungebrochen preußisch denkenden Vater tief getroffen haben. 

Wir können in den folgenden Jahren keine Belege mehr auswerten, entdecken aber dann bei der Elfjährigen die ersten Anzeichen ihrer Liebe zum Theater. Sie, die sich überhaupt nicht verstellen kann und vollkommen ehrlich ist (außer beim Kartenspiel), entwickelt früh eine Affinität zur Bühne. 

"Ich möchte gerne in das Theaterstück 'Winnetue' gehen. Es kostet 1 Mark, mit Fahrgeld 1,40 Mark."(?.10.1949)

Weihnachten 1950 schreibt sie den 1. Brief auf Französisch und bekommt in der Schule in diesem Fach ein "sehr gut" (31.1.51). Ihr Wunsch, später in Straßburg zu arbeiten, scheint hier seine Wurzeln zu haben. Sie muss die französische Sprache auf jeden Fall bei weitem dem Englischen vorgezogen haben, wie aus dem Brief v. 15.2.52 ersichtlich wird:

"Voici une bonne nouvelle qui te réjouira: J'ai écris en Englisch une deux. Sie fährt auf Deutsch fort:

"So, meine Kraft ist erschöpft, ich weiß nichts mehr zu schreiben. Ich hoffe, Du wirst alles verstanden haben. Und dann ohne Übergang im gleichen Brief möglicherweise die Ursache ihrer Erschöpfung: Wir haben gestern in der Turnstunde getrauert um 4 Uhr, als König Georg VI beigesetzt wurde." 

Am 14. Februar 1952 um 4 Uhr hat die Vierzehnjährige also getrauert und seitdem niemals richtig Englisch sprechen gelernt, trotz der "deux". Die Trauer, auch wenn sie zwischen 16 und 16 Uhr 05 von oben verordnet wurde, mag durchaus echt empfunden worden sein, wissen wir doch von ihren späteren Schülern, dass ihrer Geschichtslehrerin Frau Antal regelmäßig die Tränen kamen, wenn sie im Unterricht über Willy Brandt, Berlin und die Nachkriegszeit sprach. Wenn die Ostverträge dran kamen, hat es sie regelmäßig erwischt. In der Pause hieß es unter den Schülern: "Ach, ihr habt die Ostverträge bei der Antal? Dann nehmt ihr reichlich Taschentücher mit."

Kehren wir noch einmal in das Jahr 1951 zurück, weil in ihrem Bekennerschreiben v. 25.4. einige der hervorragenden Merkmale ihres Charakters augenfällig werden: ihre Ehrlichkeit (außer beim Kartenspiel), ihre Offenheit, ihre Korrektheit, ihre anrührende Anspruchslosigkeit und ihre unumwundene Direktheit. Denn sie kommt sofort zur Sache:

"Lieber Vati! 
Es ist leider keine erfreuliche Sache. Sei bitte nicht böse. Ich habe bei uns im Heim eine große Balkonfensterscheibe entzweigemacht (8.- DM). Ich habe noch 1.- DM bei mir. Würdest Du so freundlich sein und mir 4.- DM leihen ? Ich möchte mir die übrigen 3.- DM zum Geburtstag wünschen. Dafür soll dann das Taschenmesser ausfallen."

Schon als kleines Mädchen versteht sie meistens, sich raffiniert aus der Patsche zu ziehen, wenn ihr ein Missgeschick widerfährt wie etwa das Bettnässen einmal im Schlafsaal. Sie wird nachts wach, schämt sich arg und fürchtet den Spott der 14 anderen Kinder. Was tut unser liebes Heidilein? Sie analysiert das Problem, das sich weder rückgängig machen noch verheimlichen lässt. Also weckt sie die anderen und fragt: "Na, wer traut sich von euch, zwei Zahnputzbecher Wasser in sein Bett zu schütten?" Keiner traute sich natürlich - außer Heidi; ihr Führungsanspruch war gerettet. Aus einer Panne macht sie eine Heldentat.

Zu diesen Tugenden gesellen sich die bekannten Ecken und Kanten, an denen sich vornehmlich Autoritäten, damals Erzieher und Lehrerinnen, immer wieder gestoßen haben. Auch das erhellt aus einem frühen Brief (August 1951), den der Vater Dr. Malcomess diskret und verschämt nicht einfach wie die anderen chronologisch, sondern in einem nach der Lektüre wieder verschlossenen und zur Sicherheit an der Öffnungsseite oben doppelt gelochten Leitzordner abgeheftet hat. Er gibt Aufschluss über die dem Vater so peinlichen Schattenseiten seiner Tochter:

"Lieber Vati!
Frau Ollendorf unsere Französischlehrerin schrieb mir eben einen Tadel wegen unverschämten Betragens ein. Sie bittet Dich ... in ihre Sprechstunde... Bei Frau Krug (das war die Klassenlehrerin, die Bio und Zeichnen unterrichtete) war ich schon. Sie sagte noch, dass ich das frechste und unerzogenste Kind aus der Klasse wäre, und dass ich bei einem nächsten Vorfall aus der Schule fliegen würde."

Sie widmet sich dem Rudern und dem Mundharmonikaspiel, legt am 9.6.52 eine Prüfung ab, um "Geusenmädel werden zu können", lässt aber bei allen sonstigen Erfolgen nicht das Zunehmen außer acht. Nicht nur in punkto Frechheit und Ungezogenheit, auch beim Essen scheint sie an der Spitze zu liegen. Sie teilt dem Vater stolz mit:

"Wir haben mit Fräulein Veckenstedt um eine Tafel Schokolade gewettet, dass wir jeder 12 Brötchen schaffen. Die anderen haben ... es bis auf eine, die 10 ½ verdrückt hat, auch geschafft. So habe ich nun heute Abend meine 12 Brötchen zu mir genommen und noch hinterher mein Abendbrot bestehend aus 4 Schnitten gegessen! Jetzt liege ich sehr vergnügt im Bett und könnte schon wieder was essen."(9.6.52).

Zwei Jahre darauf besucht sie das Heim "Lerchennest" und schreibt dem Vati stolz:

"Sie meinten alle, ich hätte mich nicht verändert, nur wäre ich noch dicker geworden." (15.IV.54). Es wundert uns also nicht, wenn wir unter dem 2. April 1955 erfahren, dass sie "anfangen muss, meine Sommerkleider zu ändern".

Ihr erstes Geld verdient sie mit 17. Weil sie in einem Artikel für ein Heimatbuch des Kreises Wiedenbrück einen Ausdruck durch einen treffenderen ersetzen konnte, bekam sie von einem Herrn Kames 10 Pfennig (15.4.55).

Gestatten Sie mir, in diesem Zusammenhang Elisabeth Abgottspon zu bemühen, die (in: Heidi - Karrieren einer Figur S. 222) feststellt:

"Das Heidi ist ein überaus aufmerksames Kind. Es beobachtet und besitzt eine rasche Auffassungsgabe. Versteht es etwas nicht, fragt es nach, bis die Antwort zufriedenstellend und seine Wissbegierde befriedigt ist. Hat es etwas in Erfahrung gebracht, vergisst es dies nicht mehr und möchte sein Wissen sogleich in die Tat umsetzen."

... 

Bei der kursorischen Lektüre ihrer Autographen stoßen wir allmählich auf erste Anzeichen des Erwachsenwerdens und der Zunahme auch an Reife und Einsicht. Im Brief vom 16.8.55 (S.2) wird ihr nämlich schlagartig bewusst, "woher ich meine Gehässigkeit und meinen Egoismus habe" - nämlich von einer Tante Lotte.

Hier nun greift der Vater ein. Er heftet den Briefen - zum erstenmal seit elf Jahren - das Konzept einer Antwort an seine Tochter an. Darin (am 4.9.58) nimmt er Stellung zu Heidis Äußerungen bei seiner, des Vaters, Schwester Wilhemine, "die alles andere als kommentmäßig zu bezeichnen sind." (Wie nämlich sonst, das sagt er nicht). Dann heißt es:

"Der Besuch bei den Tanten soll für alle Teile unerfreulich gewesen sein und habe zu Tage gebracht …und weist "mit allem Nachdruck" daraufhin, ohne zu sehen, dass sich doch alles im Verwandtenkreis abgespielt hatte, "dass man Familien-Wäsche - ganz gleich welcher Art und ganz gleich um welches Familienmitglied es sich handelt - niemals vor anderen Leuten wäscht; das ist - so mahnt er - "in unseren Kreisen nicht üblich, und ich wünsche nicht, dass meine Kinder in ein inferiores Niveau absinken."

Das Schreiben endet mit der dramatischen Mahnung, die beim Heidi tatsächlich auf fruchtbaren Boden gefallen ist und uns allen Richtschnur und Wegweisung sein möge:

"Kind, Kind, erziehe Dich zur Disziplin!"

Gleichwohl wird der Briefwechsel unvermindert liebevoll fortgesetzt. Weil sie nun Gefallen am Kritisieren gefunden hat, dehnt sich der Personenkreis aus, dem sie unverblümt die Wahrheit sagt. Es handelt sich um nichts Geringeres als "die heutige Jugend". Im Brief vom 2.5.59 - Heidi ist immer noch 21 Jahre alt - beklagt sie "die Angabe, Selbstherrlichkeit und Arroganz der heutigen Jugend, zu der sie kein rechtes Verhältnis gefunden hat."

Das klingt bitter aus dem Mund des Heidi, von dem Ernst Halter in seinem Heidi-Buch treffend bemerkt (S. 26):

"Das unwiderstehliche Geheimnis, die Ur-Eigenschaft dieser ebenso unwahrscheinlichen wie trotzdem den Glauben an ihre Möglichkeit mobilisierenden Heidi ist ihre uneingeschränkt auf die sie umgebenden Menschen einwirkende Integrationsfähigkeit."

So wie in den allerersten Jahren bekommt Heidi auch als Studentin noch Fresspakete vom Vati, vorwiegend Schweizer Käse und Marzipan (vgl. Br. v.2.2.60). Wie erwachsen sie geworden ist, zeigt uns der Brief vom 2.2. 60, in dem sie über "Magenschmerzen durch zu kalten Sekt" klagt, trinkt aber (Br. vom 4.3.60) bald nur Apfelsinen- und Apfelsaft, um das Philosophicum zu schaffen, schaut sich den Mainzer Rosenmontagszug an und findet ihn "sehr blöde". Das alles scheint im Vater einen bösen Verdacht genährt zu haben, denn am 14. März 1960 wehrt sie sich gegen ungeheuerliche Vorwürfe desselben und beteuert:

"Dass ich mich bemühte, möglichst unbürgerlich zu sein, ist nicht wahr; im Gegenteil! ... Ich war nie in einem Jazzkeller oder Halbstarken-Tanzlokal", gesteht allerdings, dass sie Umgang pflegt mit Typen, "mag es der Sohn eines kleinen Pfälzer Bauern oder eine Professorentochter sein".

Bald findet sie (Br. vom 18.2.61) zum erstenmal Geschmack am Fasching in Mainz "Er ist mir gut bekommen". (Einzelheiten nennt sie leider nicht.)

"In allen Lebenszeitaltern", so Christophe Gros (Halter: "Heidi - Karrieren einer Figur" S. 122), der im übrigen das Heidi als "das grundnaive Mädchen von Weltruf", "als Inkarnation religiöser Unschuld schlechthin" (S.116) bezeichnet hat, "in allen Lebenszeitaltern lehrt das Heidi Einstellungen und Werte." Diese Einstellungen und Werte mag man durchaus unterschiedlich beurteilen. So resumiert Walter Leimgruber (Halter: "Heidi - Karrieren einer Figur" S. 182) über 

"Heidis Charakter:
Hier stehen sich zwei Grundpositionen gegenüber. Die eine sieht in dem Mädchen eine schwache, brave, angepasste, in diesem Sinne auch typisch weibliche Figur, die in erster Linie für die anderen da ist, auf alle Rücksicht nimmt, die eigenen Bedürfnisse aber zurückstellt .... Umgekehrt interpretiert die zweite Position Heidi als stark, aufmüpfig und durchsetzungsfähig. Sie schafft es immer wieder, ihr Ziel zu erreichen, ist so kommunikativ, dass sie unverrückbar erscheinende Positionen erschüttert, versteinerte Herzen erweicht und vieles in Bewegung bringt. Ihre Liebe zu den Menschen lässt sie immer auch das Positive sehen, das sie weckt und damit bewirkt, dass sich Menschen wieder auf einander zu bewegen." 

Kann man sie treffender charakterisieren, diese starke und dennoch sensible (vgl. Halter S. 228), diese aufmüpfige und trotzdem disziplinierte Frau mit ihrem selbstlosen Engagement und ihrer Ehrlichkeit (außer beim Kartenspiel)? Ja man kann. Halter (S. 25) hat es getan, als er über das Kind Heidi urteilt:

Sie ist "hilfsbereit, herzensgut, fröhlich, naiv und derart lebhaft, ...dass ein Kinderpsychologe von einem POS-Kind sprechen würde, es ist kindlich, vertrauend ... Doch Heidi ist mehr ... Das Heidi ist elementar, die Verkörperung eines überindividuellen, ja übermenschlichen Prinzips ... Dies zeigt sich vor allem darin, dass es die Herzen der Menschen (die armen verknöcherten Erzieherinnen einmal ausgenommen), immer genau dort aufschließt, wo das Schloss zum Guten montiert ist...", denn sie "führt in die Gemeinschaft der Menschen zurück." ...

Durchgängig finden sich in sämtlichen Briefen an den Vater zwei Worte: "Dank" und "Entschuldigung". Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Bis heute. Dank, liebes Heidi, dass wir in einem mal engeren mal weitläufigeren Orbit um dich kreisen und mit dir jetzt gemeinsam feiern dürfen. Aber mit diesem Dank in unser aller Namen kann ich persönlich nicht schließen ohne ein Wort der Entschuldigung für meine respektlose Laudatio. Du hast sie verdient.

 

ECKHART PILICK