ARNO REINFRANK: 

POESIE DER FAKTEN

Rede zur Eröffnung der   Ausstellung anlässlich des 70. Geburtstags von Arno Reinfrank in der Pfälzer Landesbibliothek Speyer am 11. April 2004 in Speyer 

Über 50 Buchtitel gibt es von Arno Reinfrank mit Prosa, Theaterstücken, Drehbüchern, Mundarttexten und Gedichten. Sein Leben - 

und Sie werden dem beipflichten, wenn Sie nachher diese großartige Ausstellung eines Teils seines Nachlasses die Dr. Vorderstemann aus zahllosen Kartons (in denen beileibe nicht immer alles das drin war, was außen drauf stand) an Stellwänden und 35 Vitrinen zusammengestellt hat, angeschaut haben, mehr Exponate als ich im Frankfurter Goethemuseum über den Entdecker des Zwischenknochens in der oberen Kinnlade sah - 

war nach eigener Aussage eine weit unter Wert bezahlte Überstunde.

Allerdings konnte er morgens nicht arbeiten, erst ab 16 Uhr, aber dafür dann oft die ganze Nacht hindurch. Den Großteil seiner schöpferischen Kraft widmete er der Lyrik: Dreißig Jahre arbeitete er an seiner "Poesie der Fakten", den nackten Tatsachen inbegriffen, wenn Sie an seinen "sex-und vierzig galante Gedichte" umfassenden Sammelband denken, der 1999 unter dem Titel "Lyrisches Eroticon" erschienen und sowohl auf dem Büchertisch als auch in der Ausstellung zu sehen ist.

Zwei Jahre vor seinem Tod hatte ich mich mit ihm auf der abgelegenen Doleham-Farm bei Hastings unterhalten. Von ihm - authentisch - wollte ich hören, ob bei der Poetisierung der scheinbar beliebig und auf jeden Fall subjektiv ausgewählten und doch universalen Fakten in seinem von vornherein auf zehn Bände konzipierten Werk etwa die zehn Sephiroth, die lichtglänzenden Urbilder als chiffrierter Signatur der Welt, Pate gestanden hätten. Die zweite Frage lautete: "Wie geht es dir denn?".

Er lächelte, als nehme er meine erste Frage nicht ernst, und sprach statt vom Weltall und der Kabbala über die beklagenswerte Flucht, die auch ich offenbar antreten wolle, in Esoterik und Irrationalismus, eine Flucht vor dem Elend unserer Gesellschaft und der Kultur. Er ging dann auf meine zweite Frage ein und sprach von privaten Tatsachen, die er in seinen Briefen mit der gleichen Ataraxie und scheinbaren Objektivität vermerkte wie andere Fakten auch, um die Skurrilitäten des Älterwerdens zu beschreiben. Eine drohende Erblindung bereitete ihm damals die größte Sorge, so als würden sich bei diesem Seher die Augen schon vorzeitig als überflüssig von dieser Welt verabschieden wollen. Über unpoetische Fakten wie den erhöhten Blutdruck, den er als Zeichen seines gesteigerten Lebensgefühls sowie völlig fehlender politischer Gleichgültigkeit deutete; die kaputten Kniegelenke - aber das war alles vor dem Abendessen! 

Nach dem von Jeanette liebevoll bereiteten, überaus schmackhaften Mahl (Jeanette ist Engländerin!) und bei einer Flasche Bordeaux hatte sich zwar weder der miserable Zustand der Welt im allgemeinen und der Kultur im besonderen noch der unserer Gesundheit geändert, doch Arno war munter und fröhlich und sprühte vor Witz und gewohnter Pfälzer Lebensfreude und meinte - von mir diskret auf die Diskrepanz von eigener Befindlichkeit und Welt hingewiesen - nur mit epikureischer Heiterkeit: "I don't care." Er war ein Genießer. Und ein besessener Arbeiter in einer Person.

Das machte Arno Reinfrank so anregend: So rational er war und dachte, so emotional ist er auch gewesen, ein liebevoller Mann mit einem Herz für die Schwachen und Entrechteten. Und zu diesen hatte er selber gehört, als er im Londoner East End als Hausmeister mehrerer Schulen und als Mädchen für alles Klos putzen und Schlimmeres erledigen musste. (Sie brauchen sich nur das Foto von ihm im Drillich anzuschauen aus jener darbungsvollen Zeit, auf dem er dünn und mitleiderregend aussieht und ein bisschen wie Charly Chaplin).

Er war halt ein ganz verschiedener Mensch. Jeder metaphysischen Weltbetrachtung abhold - (mich hat er einmal wegen eines Artikels als "Mystologiker" abgekanzelt und in meiner Muttersprache Kölsch geschrieben: "... mir steckt wie ne Nadel em Föttche der ‚Urgrund des Seins' - saren's leeven Jung, wo es dä dann?") - ließ er nur gelten, was offensichtlich der Fall ist und kleidete dies in seine eigenartige Sprache, in die metrischen Formen, für die man beim Rezitieren "den richtigen Atem" (Reinfrank) haben muss. Vielen Texten merkt man an, dass sie bei offenem Fenster geschrieben sind.

Der Zugang dieses Exil-Kurpfälzers zu einem unerschöpflichen Fundus sinnlicher, nämlich volkstümlicher Bezeichnungen für konkrete Zustände, ermöglichte ihm diese treffenden und farbigen Darstellungen, gleichwohl kontrastreich in einer sachlich-distanzierten Sprache.

Die Selektion dessen, was ihm bemerkenswert erschien, wurde motiviert von einer sozialen und weitgehend sozialistischen Gesinnung. Man kann ihn trotzdem nicht so einfach etikettieren. Man hat ihn als Marxisten hingestellt - er sich selbst auch früher - und dabei geflissentlich den Spielraum übersehen, den Reinfrank dem Widerspruch gibt. Gewiss bildet die materialistische Philosophie das weltanschauliche Fundament seines Denkens. Er stellt in seinen Texten aber immer wieder abstrakte Denkergebnisse in Juxtaposition zu seinen Erfahrungen. Das schuf den als Anekdote erkennbaren Umriss seiner Gedichte. Die darin ganz bewusst zugelassenen Kontradiktionen passen schlecht in eine ideologische Dogmatik.

Genau so grenzüberschreitend und unterschiedlich Herkunft und Beruf seiner vielen Freunde und seiner Leser waren, so paradox erscheint sein eigenes Leben bei oberflächlicher Betrachtung.

Er war eng mit seiner geliebten Pfalz verwurzelt, und blieb dennoch im nüchternen England auch dann noch, als seine Liebe zu diesem Land erkaltet war. Den größten Teil seines Daseins lebte und arbeitete er dort, schrieb aber ausschließlich in Deutsch. 

Er war faktisch-sachlich wie poetisch, lyrisch und wissenschaftlich, pessimistisch und gleichzeitig fortschrittsgläubig (machte aber nie den Führerschein), pries die moderne Technik, arbeitete aber nicht am PC, sondern an einer mechanischen Schreibmaschine aus der Zeit des Expressionismus. Das Modell in dieser Ausstellung stammt wohl aus den 60ern. Erstaunlich, wie zarte Verse entstehen konnten, wenn er so auf den Tasten rumhacken mußte; melancholisch und daseinsbejahend war er in einer Person, mit einem wahren "furor poeticus". 

Ich hatte ihm beim Weedjäten auf der weitläufigen Farm geholfen. Wer Unkraut "jätet, weiß, zwei Hände braucht man, um dem hart gewordnen Boden die Büschel auszuraufen, deren Wurzeln unerwartet stark den Bast der Halmenkrone gegen uns verteidigt" (wie es doppeldeutig in seinem Gedicht "Darstellung des Grases" heißt). Die schönen gelben Blümchen - "ragwort", das tief verwurzelte raukenblättrige Greisenkraut, wie es im Deutschen heißt - hat er erbarmungslos und konsequent, ohne die Pflanze geschweige denn sich selbst zu schonen, schwitzend und unermüdlich ausgerupft, weil es die Schafe jenseits des Zauns zu vergiften drohte, die übrigens, wie er mir sagte, seine einzigen Zuhörer in der Sommerfrische waren. 

Er wußte natürlich allerlei Fakten über die Tiere zu berichten, ihre schier unersättliche Gier nach Salz zum Beispiel, über Besonderheiten in den sexuellen Praktiken bestimmter Hochlandrassen und dergleichen Wissenswertes mehr. Wussten Sie, dass der Pelz nicht einmal bei Windstärke 12 auseinandergeblasen werden kann? Oder dass aus seinem Fett das Lanolin für einen Grundstoff vieler Schönheitscremes gewonnen wird, was möglicherweise das Schafartige im Gesichtsausdruck der Schönheitsköniginnen erklärt? Daß der Darm des Schafs 25 mal so lang ist wie sein Rumpf? Arno wusste das. Er war ein poeta doctus.

Seine guided tours durch London waren wegen seiner enzyklopädischen Kenntnisse beliebt, aber auch gefürchtet. Ich war einmal dabei, wie er eine Gesellschaft durch Hamstead führte, ein Füllhorn an Fakten über uns ausgoss, um uns auf die verborgensten Sehenswürdigkeiten durch Anekdoten und Glossen aufmerksam zu machen: auf die symbolische Bedeutung gußeisener Gartengitter etwa, auf die Häuser, in denen Karl Marx oder der mit recht so verstorbene Gottlieb Dölle gewohnt oder verkehrt hatten, er führte uns eine Strecke auf dem uralten aber dennoch wenig frequentierten geheimen Wanderweg, der sich durch ganz London zieht und nicht bebaut werden darf, und merkte nicht, wie die anfängliche Begeisterung und Aufgeschlossenheit unserer Gruppe mehr und mehr einer totalen Erschöpfung wich, der Abstand zu ihm, der munter plaudernd voranschritt - er war verdammt gut zu Fuß, wahrhaftig ein Peripatetiker - sich zunehmend vergrößerte. Und als er so unermüdlich - ohne stehen zu bleiben - dozierend und Geschichte und Geschichten zum besten gebend schließlich über den verwunschenen Friedhof zu Hamstead wanderte, hockten, ohne dass er es gewahr wurde, weit hinter ihm abgeschlagen und fußlahm seine Gäste zusammengesunken auf umgestürzten Grabsteinen..

Konsequent und geradlinig war Arno Reinfrank. Er schwamm mit seinem Aufbegehren gegen das 'amtliche Vergessen' der Verbrechen der Nazizeit stets gegen den oft befindlichkeitsseligen Strom deutscher Nachkriegsliteratur. Arno Reinfrank hat sich niemals korrumpieren und verführen lassen. Er ist ein Mann von Prinzipien gewesen und ihnen treu geblieben ohne Rücksicht auf persönliche Vor- oder Nachteile. Er ist ein - oft einsamer - Einzelkämpfer geblieben. Darum war er bedacht und angewiesen auf eine rege Korrespondenz mit Kohl und Kommunisten, Malern und Geschäftsleuten, Handwerkern und Wissenschaftlern aller Sparten, Dichterkollegen und Verlegern selbstverständlich, die er stets postwendend und hartnäckig Antwort heischend sein Leben lang geführt hat. Sie spiegelt die Vielseitigkeit seiner eigenen Facetten und Interessen.

Auf alles konnte er sich einen Reim machen. Rund 3000 Gedichte sind erschienen, mitunter "Gedichte wie Faustkeile", wie jemand (ich weiß im Augenblick nicht wer) geschrieben hat; - er selber sprach einmal von Ideogrammen.

Das Feld dieser Poesie ist die ganze Welt, die sichtbare wie die unsichtbare, wie man sie z.B. sonst nur unter dem Elektronenmikroskop zu sehen kriegt. In lyrischer Kürze, d.h. in metrisch gebundener Form, liegt in diesen 10 Bänden seiner Poesie der Fakten eine internationale, multikulturelle Enzyklopädie der Welterscheinungen vor uns. Einen neuen Gattungsbegriff hat er geschaffen.

Fakten sind witzig, um Schlegels verblüffende Bemerkung über Lexika hier auf sein Werk anzuwenden. Witz kommt etymologisch von Wissen (ahd. uuizzan), meinte ursprünglich die menschliche Denkkraft überhaupt und später die Fähigkeit, ungeahnte Zusammenhänge und verborgene Beziehungen herstellen oder entdecken zu können und damit tiefere Einsicht in das Ganze der Wirklichkeit zu vermitteln. Reinfranks Fakten überwinden, sobald sie pointiert aus seinem Laboratorium kommen, die scheinbare Beliebigkeit des Details.

Seine Aversion gegen "sentiments", sein Mißtrauen gegen pseudoromantische Gefühlsduselei und esoterische Schwärmerei können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in unserer lebensfeindlichen Kalkulationswelt mit dem Profit als oberster Richtschnur, in unserem wissenschaftlichen Zeitalter des Aberglaubens, der Poesie ihren Platz verteidigt hat. Klaus Walther rühmte 1985 Arno Reinfrank und sagte: "Er schreibt Mutgedichte für sich und seine Leser." "Mutgedichte" ist schön ausgedrückt, weil ihnen an Stelle raunender Realitätsverleugnung Durchdringung der Wirklichkeit zugrunde liegt, weil sie bei aller Komplexität verstanden werden wollen und darum auf Chiffrierungen verzichten, die so oft Vieldeutigkeit suggerieren oder unredlich mehr Tiefsinn vortäuschen als sie tatsächlich verbergen.

Vor nicht allzu langer Zeit gehörte nämlich die Dunkelheit zur Lyrik wie der Bart zum Propheten. Gottfried Benn sah es geradezu als die Aufgabe des Dichters, "die entscheidenden Dinge in die Sprache des Unverständlichen (zu) erheben", sich an Dinge hinzugeben, "die verdienten, daß man niemanden von ihnen überzeugt." 

Natürlich stand auch Reinfrank mit seiner im Gegensatz dazu stehenden Vorliebe für Präzision, Eindeutigkeit und Objektivität in der subjektivsten aller literarischen Spielarten auf den Schultern anderer. Brecht ist Reinfranks Gewährsmann. "Ist das lyrische Vorhaben ein glückliches, dann arbeiten Gefühl und Verstand völlig im Einklang", notierte der einmal. Arno hat das als Richtschnur beherzigt. Bert Brecht forderte das Theater des Zeigens, nicht das der kulinarischen Identifikation. 

Arno Reinfrank hat als Schriftsteller seinen erhobenenen Zeigefinger immer hochgehalten, allerdings manchmal auch den gestreckten Mittelfinger. Er hat moderne Verse geschrieben, indem er Technik und Lyrik, Wissenschaft und Poesie kompatibel gemacht hat. 
Und doch ist das nicht bloß Gedanken-Lyrik, denn die Verse enthalten unter der Gelassenheit und Ruhe, die sie atmen, Leidenschaft und Trauer, die vielleicht das Konstitutive der Fakten-Selektion ausmachen. Im "Gestank" gelobt er seinem Vater, den unseren Augen nicht mehr sichtbaren und zu einem Industrie-Standort verkommenen Schauplatz des Leidens Unschuldiger nie zu vergessen. Seine Lieder halten fest, was andere übersehen, verkennen, verdrängen oder schlicht nicht wissen (können oder wollen). 

Seine Entfremdung ist immer politisch begründet, beileibe nicht metaphysisch, selbst wenn es in einem seiner Gedichte heißt: "Auch ich bin ein Fremder auch ich" . 

Die Rolle der Natur in seinem Werk zu beschreiben, würde den Rahmen hier sprengen. Aber sie erscheint, so viel ich sehe, als Ganzheit, als etwas Urgegebenes und Letztes, hinter oder über das zurück- oder hinauszuschreiten sinnlos ist. 

Und das hat er mit Goethe gemeinsam, dem die Fakten, in denen er bisweilen vielsagende und unendlich deutbare Urphänomene erkannte, alles sagten. Wer hinter der Natur ein metaphysisches Ideenreich sucht, den verglich Goethe mit einem Kind, das hinter den Spiegel schaut, um da die Ursache der Erscheinungen zu entdecken. 

So nimmt es denn nicht Wunder, daß schon Goethe in der deutschen Literatur den nach ihm geborenen Arno Reinfrank vermisste, oder doch das, was uns schließlich Arno Reinfrank geschenkt hat. Goethe beklagte nämlich, der deutschen Poesie fehle es an einem öffentlichen und nationalen Gehalt, sie drehe sich in einem gemütlichen (= gemütvollen) Privatkreise; "diese Richtung hat sie nie verlassen..." - (sie) bringt, schreibt er wörtlich, "eigentlich nur Ausdrücke, Seufzer und Interjektionen... kaum irgendetwas geht ins Allgemeine, Höhere; ... was (Kritik an) Staat und Kirche betrifft, ist gar nichts zu merken." Und er mahnte: "Der begabteste Dichter sollte es sich zur Ehre rechnen, auch irgendein Kapitel des Wissenswerten ... behandelt zu haben." Diesen Anspruch hat Arno Reinfrank erfüllt.

ECKHART PILICK