Volker Rohrmoser
Ein Männlein steht im Walde
Ganz still und stumm
Es hat von lauter Purpur
Ein Mäntlein um
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben

 

Volker Rohrmoser aus Bayern war Maschinenmann. Werner lernte ihn auf seiner zweiten Karibikreise kennen und gedenkt seiner manchmal heute noch mit einer Art religiöser Scheu. Das Wesen der Religiosität hat Rudolf Otto bekanntlich als das Numinose bezeichnet. Es weht einen in seltenen Augenblicken etwas an wie aus einer anderen Wirklichkeit. Charakteristisch ist die Ambiguität des Numinosen: Das Schrecklich-Schauervolle, das so genannte "mysterium tremendum", und zugleich das Verlockende, das "mysterium fascinosum". Dem Werner erschien dieser Rohrmoser nun, wenn auch nur für Augenblicke, einerseits schrecklich-schauervoll, und dennoch konnte er sich andererseits nicht von seinem faszinierenden Anblick befreien. Das Numinose hat ein unauslöschliches Bild hinterlassen.

Es ist ja oft so, dass in unserer Erinnerung Ereignisse lebendig bleiben, die, während sie passierten, nicht mehr als ein paar Augenblicke gedauert haben mochten. Einen solchen Moment von gewissermaßen bleibendem Wert hat unser Freund diesem armen Rohrmoser zu verdanken. 

Es geschah am helllichten Tag, wenn auch tief im dunklen Bauch des Frachters, im Maschinenraum, da wo die Motoren einen höllischen Lärm und eine ebenso höllische Hitze von bis zu 60° verursachen. Werner hatte dort gerade Getränke serviert, als jener unglückliche Rohrmoser durch die Schwingtür aus dem Pissoir kam. 

Die Maschinenleute tragen da unten rote Overalls und drunter nichts. Sie lassen sich auf der Vorderseite mit einem fingerbreiten Reißverschluss mit grober Helixzahnteilung bequem öffnen, so dass der Mann vor dem Urinal ohne sich zu Vernesteln oder zu Verknöpfen und ohne Verzug seinem Harndrang nachzugeben in der Lage ist. Sie lassen sich aber ebenso leicht wieder verschließen. Diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ertüftelte Verschlusstechnik ist, wie jeder weiß, kinderleicht zu handhaben und eigentlich eine segensreiche Erfindung. Nicht so für Volker Rohrmoser. Denn auch das Leichte hat so seine Tücken.

Werner beschreibt den Mann als fleißigen fixen Arbeiter, der niemals seine Pausenzeiten überzog, als einen gutmütigen und bärenstarken Kerl. Und der kommt nun gerade aus dem WC gestürzt, kreideweiß im Gesicht, schreiend und blutend. 

Rasch war klar, was passiert sein musste - kein misslungener Versuch der Auto-Kastration, wie er vielleicht nach monatelangem Aufenthalt auf dem Meer einem liebeshungrigen Seemann nahe gelegen hätte, wäre der nächste dominikanische Hafen, Boca Chica[1] mit seinem beliebten Bordell nicht bloß vierzehn Tage entfernt gewesen.

Nein, jener Volker hatte offensichtlich nach dem Wasserlassen unachtsam mit einem übermäßig heftig raschen Ruck seiner kräftigen Finger den Schiebergriff hochgezogen, um wie gewohnt den Schlitten des Reißverschlusses vom so genannten Endteil wieder hinauf zum Anfangsteil zu befördern. Dabei wurde dieser durch ein Hindernis in Gestalt des röhrenartigen Begattungsorgans auf seinem Weg blockiert. Die beiden Wendeln (oder Helices) konnten nun nicht mehr ordnungsgemäß vereinigt werden, und anstatt ineinander, wie gewünscht, verhakten sich die Spiralen in Rohrmosers Präputium und, allzu dumm, seinem Frenulum.

Daher das Blut. Daher der Schrei. Beides wollte kein Ende nehmen. Wer befreit Rohrmosers Genital aus der Klemme? Vor allem: Wie? Voller Mitleid, doch in zarter Zurückhaltung und ohnmächtiger Hilflosigkeit, standen die Maschinenleute, der junge Backschafter unter ihnen, vor ihrem bedauernswerten Kameraden, fasziniert und schauervoll zugleich. 

Es ist nicht so, als sei hier mangelnde Empathie die Ursache für die scheinbare Passivität der Augenzeugen, keineswegs. Manch einer der gaffenden Burschen war wohl rau genug, um im Notfall einen Kollegen mit einem beherzten Luftröhrenschnitt vorm Erstickungstod zu retten, eine klaffende Wunde rasch zu verbinden oder ein verletztes Glied zu schienen. Nicht aber dieses. Der Anblick schien sie zu lähmen. Werner reagiert als erster. Er rennt so schnell er kann zum Zweiten Offizier, dem wie schon gesagt auf dem Schiff das Sanitätswesen obliegt, und meldet atemlos den Vorfall der Vorhaut Volkers.

Bei uns zu Lande geschieht so etwas gewöhnlich im Krankenhaus, etwa wenn der Patient wegen einer Phimose operiert werden muss, natürlich unter Narkose. In manchen Kulturen ist die Zirkumzision aller neugeborenen Knaben ein selbstverständliches Ritual. Ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung kommt in diesen Genuss. Jesus wurde bekanntlich beschnitten. Das Sanctum Praeputium wurde gleich mehrfach in verschiedenen Kirchen gleichzeitig als Reliquie verehrt[2]. Karl der Große hatte, wie jeder weiß, ein Exemplar persönlich von einem Engel erhalten und es Papst Leo III. geschenkt. 

Hier auf dem Dampfer, darf man annehmen, hörte auch Rohrmoser die Engel singen. Aber unfreiwillig durch eine unbedachte und zu rasant ausgeführte Bewegung ähnliche schmerzhafte Erfahrungen bei vollem Bewusstsein zu machen, das, Freunde, ist doch etwas ganz anderes, als wenn man als neugeborener Knabe einer feierlichen Prozedur unterzogen wird.

Gewiss, wenn man sich die Einsichten Sigmund Freuds vergegenwärtigt, wie er sie in seiner Psychopathologie des Alltagslebens dargelegt hat, so mag es sich bei dem verhängnisvollen Ungeschick des Maschinenmannes vordergründig zwar um ein Versehen infolge unkonzentrierter Handhabe eines Reißverschlusses handeln, in Wahrheit aber doch um eine jener psychischen Fehlleistungen, in der sich eine unbewusste Selbstbestrafungstendenz wegen massiver Inzestwünsche aus früher Kindheit offenbart, wie sie in der Selbstblendung des Ödipus ihr mythisches und literarisches Vorbild hat. Und nun muss man sich den halberblindeten Augenzeugen dieser Szene vorstellen. Was mag in ihm in einem solchen Moment vorgegangen sein! Welche prä- oder postnatalen Traumata mögen da in ihm bewusst geworden sein und als Entwicklungsschub zur Reifung seiner starken Persönlichkeit beigetragen haben, vergleichbar vielleicht dem Erlebnis in einer genial inszenierten und realisierten Tragödie. Aber Werner ist ja hier eben nicht nur aufgewühlter Zuschauer, man sieht ihn ja sofort nach einigen intensiven Schrecksekunden davonrennen, um Hilfe zu holen.

Der Offizier nimmt also sein Köfferchen und eilt mit ihm flugs zum Tatort, wo der immer noch blutende und schreiende Volker die Schamgegend mit beiden Händen beschirmt, wenn auch vergeblich, denn das Blut sickert unaufhaltsam durch seine Finger. Volker Rohrmoser erblickt jetzt das bekannte Arztköfferchen, gefüllt, wie er wohl weiß, mit allerlei Mullbinden und Pflastern, aber eben auch mit scharfen Instrumenten wie Skalpell und diversen Scheren, und er zittert vor Angst. Der Zweite sagt besänftigend: "Zeigen Sie mal her, Rohrmoser." Behutsam tritt er dem Gemächte näher, hält, psychologisch geschickt, dem winselnden Patienten den Arzneikoffer hin und sagt: "Halt mal eben", kniet nieder, prüft die verhakte Angelegenheit - und: Ratsch! reißt plötzlich unvermittelt den Schieber nach unten.

Nachdem die Wunde des Unglücklichen wie üblich mit Jodtinktur desinfiziert worden und Volkers Geschrei allmählich in leises Wimmern übergegangen war, das schließlich auch verstummte, sagte der Zweite: "In zwei Wochen sind wir alle in Boca Chica im Puff. Aber ohne dich, Rohrmoser, verstanden!"[3] Da begann das Wimmern wieder aufs Neue.

[1]              Boca Chica ist ein beliebter Badeort auf der Insel Hispaniola, die zur Dominikanischen Republik gehört. Der kleine Naturhafen hatte damals noch einen einfachen Holzpier, wobei zum Löschen des Stückguts eigenes Ladegeschirr erforderlich war.

[2]          So in Antwerpen, in Rom, in Charroux und in Calcata, wo es bis 1983 in Prozessionen mitgeführt wurde. - Das theologische Problem, ob die leibhaftige Auferstehung des HErrn nun mit oder ohne dasselbe erfolgt ist, konnte bis heute von der Wissenschaft nicht abschließend geklärt werden.

[3]          Während des erholsamen Landgangs hatten sich vier Seeleute des Frachters mit Gonokokken und einer mit der Lues infiziert, so dass im nachhinein der Mann noch relativ gut davon gekommen ist.

Aus
Werners Seemannsgarn
Gesponnen von Eckhart Pilick. Mit Bildern von Max-Peter Näher. Verlag Peter Guhl Rohrbach/Pfalz 2013. 120 Seiten. ISBN 978-3-930760-70-1