KOSMISCHE FAHRT
In die kosmischen Tropen!
Gefüllt den Apparat mit Mathematik und Äpfeln,
in dem wir reisen, und mit Heu.
Verlassend die weißen Sonnenverdunkler,
die Wölkchen aus Pfennig, Cent und Kopeke
und aus Torheit und Selbstsucht.
Entlangreisend dem Stoßzahn des Lichtes,
blau aus Elfenbein, der das All durchragt,
länger als der aufgerollte Äquator.
Eintauchend in den gärenden Dschungel der Sterne,
wo das Metall blüht an Kristallstruktur und Ader
und Protoplasmen küssend schon kämpfen.
Mitnehmend das Kuh-Bild unseres Lebens
und Stierkalb und Messuhr und Brot
durch Magnetfeld und Radioaktiv in die Krater.
Denn Verbreitung bedarf unser Geruch überallhin,
Geruch von milchenden Rindern, Mensch und Widerspruch,
da wir den Rock für die Allfahrt genäht.
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Das Gedicht ist eines von rund dreitausend Gedichten aus Arno Reinfranks „Poesie der
Fakten.“ Darin geht es um die Reise in den Weltraum. Es ist 1962 entstanden und 1963
erschienen, also in jener Zeit, als zunächst US-Astronauten je dreimal und dann russische 64
und 48 mal die Erde umkreist hatten. Ein unbemanntes Raumschiff war unterwegs zur Venus.
Obwohl der Dichter um Eindeutigkeit bemüht ist und jede Art von Verschnörkelung oder
Verschlüsselung vermeidet, lassen die Verse schon beim ersten Hören eine hintersinnige
Mehrdeutigkeit ahnen.
Es beginnt mit einem Aufruf zum Aufbruch: „In die kosmischen Tropen!“ Es gibt außer dieser
1. der insgesamt 18 Zeilen noch eine weitere mit 7 Silben – alle anderen haben 8 bis 18 –,
nämlich die 6.: „und aus Torheit und Selbstsucht.“
Demnach gibt es in den reimlosen und zunächst willkürlich anmutenden freien Rhythmen
durchaus verborgene Korrelationen. Allein die Zuordnung dieser beiden Zeilen (auch andere
stehen in gleicher Proportion zueinander) mit derselben Silbenzahl, die außerdem sogar noch
das gleiche Maß an Hebungen und Senkungen, betonten und unbetonten Silben aufweisen –
es handelt sich um Drei-Heber –, verweisen auf einen doppelten Sinn der ersten beiden
Strophen:
Während die technische und wissenschaftliche Leistung besungen wird, wird dieser
zivilisatorische Aufbruch zu neuen Horizonten mit der Erwartung auf eine moralische
Läuterung der Menschheit „aus Torheit und Selbstsucht“ verknüpft. Der Reise nach draußen
entspricht eine Reise nach drinnen, und so werden gleichsam spielerisch die Fakten der
Technik mit kulturellen Werten ineinander verschränkt. Das ist Reinfranks Markenzeichen.
Warum verwendet er das in diesem Zusammenhang mit der Raumfahrt ungebräuchliche
Fremdwort „Tropen“? Wörtlich übersetzt heißt es „Sonnenwenden“. Der Begriff drückt
demnach die Gewissheit aus, der Sonne, dem Symbol für menschliche Wärme, näher zu
kommen. So versteht man den Doppelsinn, wenn er von „Wolken“ spricht, die ja rein faktisch,
das heißt in Wirklichkeit, nicht die Fahrt eines Weltraumschiffs behindern können: Wolken
stehen für die Verhüllung, die Verborgenheit und Verdunkelung der Wahrheit. Reinfrank
apostrophiert sie als „Sonnen-Verdunkler“, und sie werden klar beim Namen
genannt:„Pfennig, Cent und Kopeke“, also Profitgier mit „Torheit und Selbstsucht“
gleichgesetzt, aus der es auszubrechen gilt.
Doch diese Sonnenverdunkler werden gar nicht als Wolken bezeichnet, sondern diminutiv als
„Wölkchen“, weil der fortschrittsgläubige Autor darin auf Dauer keine ernsthaften
Hindernisse erblickt, denn die Reise geht entlang „dem Stoßzahn des Lichtes“. Das Licht
bahnt sich einen Weg durch die Verdunkler, kraftvoll und wohl auch aggressiv wie ein
Stoßzahn. Dieser Zahn ist „blau“. Die Farbe Blau symbolisiert „Wahrheit“, „Intellekt“,
„Weisheit“; im Keltisch-Druidischen ist sie die Farbe der Dichter und Seher. Arno Reinfrank
hat sich selbst einmal in der Tat gesprächsweise in der keltischen Tradition der Barden
gesehen, in der ein philosophischer Gehalt in einer so metaphorisch wie möglich formulierten
Sprache vorgetragen wurde.
Blau ist die Farbe der Magna Mater, der großen Göttin, dem Geist der Erde. Sie ist immer
zugleich chthonisch und himmlisch, in ihr vereinigen sich das terrestrische und das lunare
Prinzip. Die produktive Kraft der Erde zeigt sich in ihren Attributen, ihrem heiligen Tier, der
Kuh, ihrer Hörner oder der Mondsichel, wie sie die Schwangere in der Höhle von Lascaux
oder die kretische Göttin als Doppelhelix in der Hand halten.
Der Schriftsteller Reinfrank verwendet „das Kuh-Bild unseres Lebens“ offenbar in diesem
mythologischen Zusammenhang. Das wird deutlich, wenn er betont, dass wir es mitnehmen
auf die Fahrt „in den gärenden Dschungel der Sterne, in die Krater“! Auch das „Stier-Kalb“,
das männliche zeugende Pendant, die Opfergabe ohne Makel, die Seele der Welt, gesellt sich
passend dazu, als säkularisierter Gottesbegriff sozusagen. (Im Judentum wird Jahwe „Stier
Israels“ genannt).
Kontraste erscheinen in diesem Gedicht miteinander versöhnt. Beispiele für eine solche
Vereinigung der Gegensätze sind die Wörter für
das Erdhafte: Apfel, Heu, Kuh, Milch;
das Technische: Mathematik, Apparat, Messuhr.
das Kosmische: Sonne, Sterne, Licht, All.
das Menschliche: Küssen, Brot, Kämpfen, Geruch.
Sie lassen das Gedicht über die „Kosmische Fahrt“ zu einer Mission geraten – voller
Begeisterung zu neuen Ufern, zum Licht, voller Hoffnung, doch ohne falsches Pathos – auf
ein Entkommen aus der Dunkelheit der Selbstsucht und Dummheit. Es ist eine Reise zur
Sonne, ins Zentrum, ins Herz unserer Galaxis. Diese Reise ins All verläuft aber nicht
geradlinig, sondern spiralförmig oder krumm „entlang dem Stoßzahn des Lichtes“.
Das Gedicht ist eine Einheit von Form und Inhalt. Es startet in der 1. und 2. Strophe,
beschleunigt in der 3. und 4.Strophe, geht dann kurz vom Gas in der 5. und vollendet sich in
den längsten Aussagen der letzten Strophe.
„Da“ nun“, das heißt „nun, da“ die Fahrt begonnen hat, ist auch eine Mission nötig, eine
Sonnenwende darf erwartet werden.
Das, was so vordergründig eindeutig klingt, ist mehrdeutig. Nicht weil die Notwendigkeit
bestand für die Mission ins All, haben wir den „heiligen“. Rock genäht, nein da wir die
Rakete gebaut haben, muss jetzt auch die Notwendigkeit einer Mission des Menschen
postuliert werden, auch wenn es noch Lichtjahre bis zum Ziel sind. Die Erwartung des
Kommenden, Zukünftigen ist verbunden mit der Hoffnung auf eine bessere, friedliche Welt.
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Das Gedicht findet sich im 6. Band – „Jahrtausendfürbitte“ (Berlin 1991) – der „Poesie der
Fakten“ von Arno Reinfrank. Es besteht aus fünf Strophen, jede Strophe aus sechs Versen in
freien Rhythmen. Mit Ausnahme der 4. Strophe, die nur aus einem Satz besteht, werden die
übrigen Strophen aus jeweils zwei Sätzen gebildet.
Diese „Symmetrie“ der Form, diese Paarung“, entspricht dem binären Inhalt. Wieder wird
hier, wie es für die Lyrik Reinfranks typisch ist, ein objektiver Tatbestand oder eine
Erkenntnis aus dem Bereich der Naturwissenschaft oder Technik lyrisiert und in Analogie
gesetzt zu einem ganz anderen Faktum, zu einem Bild aus dem Alltag oder, wie im
vorliegenden Gedicht, aus dem Gebiet der Kunst. Fakten werden Poesie.
Hier werden die dem unbewaffneten Auge unzugänglichen Vorgänge aus dem Mikrokosmos,
die Bewegung der Quanten, mit einem Ballett verglichen, dem Inbegriff der Schaulust. Aus
einer solchen Verschränkung ergibt sich die Spannung zwischen den Gegensätzen und ihre
innere Zusammengehörigkeit. Das Unsichtbare wird mit dem Sichtbaren, das nur unter dem
Elektronenmikroskop Erkennbare wird mit einem Bühnengeschehen kontrastiert und
gleichzeitig gepaart: Siebenmal kommen Begriffe aus der Physik (A) vor, und siebenmal
Begriffe, die mit der Tanzkunst (B) zu tun haben:
A
1. Teilchen
2. Positronen
3. Energien
4. Elektronen
5. Teilchen-Beschleunigung
6. Helium
7. Raum/Universum
B
1. Ballett
2. tanzt
3. Stück
4. Choreograph
5. Ballett
6. Vorhang
7. Ausgangstüren
Die allein der Wissenschaft zuzuordnenden Wörter finden sich in der 1. und letzten Strophe,
diejenigen aus der Welt der Bühne in der 2. und 4. Strophe. Also auch hier wieder eine
inhaltliche und formale Verschränkung der Kontraste. Die 3. Strophe vereinigt beide Gebiete,
Wissenschaft und Theater.
„Paar und Gegenpaar“ sind gewöhnlich nicht vereint, es sind Gegensätze, die kollidieren und
„auseinanderblitzen“ wie Positronen und Elektronen, doch zusammen bilden sie einen
mikrokosmischen Reigen. Dem Dichter wie dem Kernphysiker erscheinen sie wie ein Tanz
nach einer erstaunlichen und rätselhaften Choreographie.
Generell gibt es zu jedem Teilchen das zugehörige Antiteilchen. Symmetrie scheint hier ein
allgemeines Naturprinzip zu sein, wiewohl wir einer kleinen Abweichung davon unsere
Existenz verdanken: Als beim Urknall aus reiner Energie Materieteilchen entstanden, gab es
einen noch nicht verstandenen geringen Überschuss von Materie gegenüber Antimaterie. Als
sich im weiteren Verlauf Teilchen und Antiteilchen gegenseitig vernichteten, blieb deshalb
"ein wenig" Materie übrig, eben jene, aus der heute Galaxien, Sterne, Planeten und auch
Menschen bestehen.
Die zwei Wörter der Gedicht-Überschrift „Rätselhaftes Ballett“ kommen noch einmal vor.
Teilchen-Beschleunigung wird zum „Ballett der Wissenschaft“. Auch das Rätselhafte taucht
am Ende wieder auf, so dass dadurch wiederum eine Art Choreographie sichtbar wird, eine
Zusammengehörigkeit disparater Vorgänge als Gleichnis, eine Geschlossenheit, die mit der
offenen Fragestellung am Schluss kontrastiert. Die Klügsten unter den Wissenschaftlern, die,
die eine Goldmedaille für ihre Gehirntätigkeit verdienten, stehen immer noch trotz aller
Erkenntnisse vor offenen Fragen, ja vor Rätseln. Es heißt aber nun nicht: Wir werden schon
„den großen Rätseln näherkommen“ und werden sie eines Tages lösen, sondern: „Die Lösung
muss doch möglich sein“. Die Wendung „muss doch“ schwächt den Ausdruck
zuversichtlicher Erwartung eigentlich eher ab als ihn zu verstärken. Ein leiser Zweifel
schwingt mit. Die letzte Zeile klingt geradezu beschwörend.
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Wortgruppen aus zwei verschiedenen Bereichen, die gewöhnlich nichts
miteinander zu tun haben, werden in diesem Gedicht miteinander verschränkt
und auf einander bezogen. Auf der einen Seite
Wissenschaft
Elemententafel
Quadrate
Formeln
Fakten
Dimensionen
Elektronenblitz
Mathematisch
Diesen Begriffen aus der „exakten“ Wissenschaft stehen gegenüber die Wörter
Poesie
Gott
Metapher
Poet
Das Unerforschte
Das Unsagbare
Es handelt sich um ein Gedicht, in dem das Unsagbare „besprochen“ wird.
Daraus ergeben sich Fragen. Reinfrank spricht aber nicht von dem
Unerforschlichen, sondern von dem Unerforschten, scheint es also implizit für
prinzipiell erforschbar zu halten. Gott ist offenbar Metapher, ist Chiffre für das
Unerforschte und das Unsagbare.
Welche Rolle kommt dem Wort „Gott“ zu? Er ist „mathematisch nicht zu
fassen“, er ist „ohne Dimensionen“. Aber ist er das nur in dem Kästchen, das die
Naturwissenschaft nicht oder vielleicht noch nicht ausgefüllt hat und weiß, d. h.
offen lässt?
Die „Inscrubatabilitas“, die Unerforschlichkeit, wird in der Bibel auf die Stelle
im Römerbrief des Paulus (11,33) zurückgeführt, wonach die Tiefe Gottes und
seiner Wege, seiner Ratschlüsse unerforschlich und auch aus der Erkenntnis der
Natur nicht zu ergründen sind. Will Reinfrank in der alten theologischen
Tradition vom Deus absconditus sprechen, den dingfest zu machen unmöglich
ist im Gegensatz zum Deus revelatus? Karl Barth hat in seiner Theologie die
Unmöglichkeit betont, von Gott zu reden, es sei denn durch ein Wunder, und
zwar wegen des unendlichen Abstands zwischen Gott und dem Menschen
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