Nepomuk Hummel
Gestern war ich in dem Tal,
wo der Hund begraben liegt.
Trat erst durch ein Felsportal
und dann wo nach links es biegt.

Vorwärts drang ich ungestört
noch um ein Erkleckliches -
ist auch niemand da, der hört?
Denn nun tat ich Schreckliches ...
Christian Morgenstern
 

"Sag mal, Werner, du willst dich doch sicher nicht begraben lassen, oder?" frug Max unverblümt. "Du wirst doch sicher mal auf See bestattet, oder?" "Auf keinen Fall!", rief Werner gereizt und ohne nachzudenken. "Ich war lange genug auf dem Wasser. Außerdem bin ich sehr erdverbunden und liebe die Heimat." 
"'Deine Heimat ist das Meer' könnte Heino schließlich auch bei deiner Beerdigung auf dem Bergfriedhof in Durlach singen. Ich stelle gern die passende CD zur Verfügung." Das Anerbieten kam von Victor, dem ehemaligen Friedhofsgärtner aus Köln.

"Meine Trauerfeier ist mir egal", sagte Werner, "aber nicht der Ort meiner letzten Ruhestätte. Da soll es wenigstens ab und zu statt ruhig richtig gesellig zugehen. Ich möchte nämlich so begraben sein wie Nepomuk Hummel." Werner klärte seine begriffsstutzigen Zuhörer auf. Der Genannte sei 1988 bereits heimgegangen und ein hochläufiger und auf der rechten Pfote lahmender Jack Russell Terrier, treuer Gefährte seiner Tante Gundula in Nippes, und wie diese, eine studierte Klavierlehrerin, äußerst musikalisch gewesen. Er müsse wohl von jenem legendären Nipper (1884 - 1895) abstammen, jenem englischen Wadenbeißer, der bekanntlich auf dem Label der Schallplattengesellschaft "His Master's Voice" und anderer Firmen vor dem Grammophontrichter hockt und aufmerksam lauscht. 
Nepomuk Hummel habe stets die Ohren gespitzt, wenn in seiner Umgebung musiziert worden sei. Dabei habe er eine deutliche Vorliebe für Männerchöre und Choräle gezeigt, die jener für Schweinekoteletts kaum nachstand. Wenn er beim Gassi gehen im Park dem Kirchenchor oder dem örtlichen Gesangverein zuhörte, habe man ihn kaum mehr wegzerren können. Auch Klassik liebte der Hund über alles. Interessant übrigens, dass Mozarts Pimperl bekanntlich ebenfalls ein Terrier gewesen sei. "Wusstet ihr", warf Evelyn ein, "dass es mittlerweile Entspannungs-CDs für Hunde mit Musik von Bach und Chopin gibt?" "Diese Neigung", nickte Werner, "ist also gar nicht so verblüffend, wie die Tatsache, dass ich sie teile." 

"Was hat das alles mit deiner Grabstätte zu tun, old sailor?", wollte Max wissen. "Oder mit der Stelle, wo der Hund begraben liegt? Wo befindet sich überhaupt sein Grab? In Weimar vermutlich?"

Victor wirkte auf einmal verlegen, ja sonderbarerweise sogar kleinlaut. Die ihm am Stammtisch gegenüber hockten, bemerkten es verwundert. "Darf ich's sagen?", frug Werner den Friedhofsgärtner. Der antwortete bloß mit einem ergebenen Achselzucken.

"Also!", hub nun Werner an, erfreut, ein so aufmerksames Publikum zu haben. "Also!" Zunächst müsse er vorausschicken, dass größere Haustiere nach ihrem Ableben nicht im Garten oder im Wald bestattet werden sollen. Es gebe wohl mancherorts Tierfriedhöfe[1], wenn auch nicht so zahlreich wie in den USA. Die Kadaver sollen nämlich unmittelbar nach der Einschläferung dem Veterinär zur Entsorgung überlassen oder direkt der Tierverwertungsstelle übergeben werden, wo man sie zu Brei verarbeitet. Das wollte natürlich seine Tante Gundula auf keinen Fall mit ihrem verblichenen vierbeinigen Lebensgefährten geschehen lassen. Sie hätte für ihn, wie sie zugab, am liebsten eine Abschiedsfeier in der Kapelle gehabt, mit Chrysanthemen, Kränzen und viel Musik, wenn auch ohne Predigt, nur mit einem kurzen, stillen Gebet. Das hätte dem einzigartigen Wesen Nepomuk Hummels durchaus entsprochen, der ja ein allem Schönen und Leckeren gegenüber aufgeschlossener Hund gewesen war. Allein, es durfte nicht sein. Die Kremation des treuen Tieres lehnte die gute Katholikin damals strikt ab. Außerdem scheute sie die Kosten. Sie war schon ein bisschen knauserig, die Tante; mit einem einzigen Teebeutel zum Exempel sei sie drei Tage ausgekommen. 
In ihrer Not habe ihr nun jener befreundete Friedhofsgärtner aus der Nachbarschaft zur Seite gestanden, dem sie jahrelang Klavierunterricht erteilt hatte, wenn auch mit mäßigem Erfolg. "Sei nicht böse, Victor", sagte Werner boshaft, " wir haben uns ja da kennen gelernt, als ich bei ihr zu Besuch in Köln war, du hattest Unterricht und klimpertest dauernd Heinzelmännchens Wachtparade, nicht wahr." "Nein", widersprach Victor ungehalten, "ich übte 'Für Elise', und das tut im übrigen hier gar nichts zur Sache. Das war eine Bagatelle."

Nepomuk Hummel habe, fuhr Werner fort, zu Beginn jeder Übungsstunde stets mit hängendem Schwanz das Wohnzimmer verlassen, obgleich sich hier unmittelbar neben dem Flügel sein Lieblingssessel befunden habe und er darüber hinaus ein ausgesprochenes Gesellschaftstier gewesen sei. "Bei jedem Gast pflegte er freudig mit dem Schweif zu wedeln, und je mehr Leute um ihn herum versammelt waren, desto heftiger hat sich diese seine Seelenachse in Bewegung gesetzt und um so mehr Speichel in seinen Lefzen gebildet, wie sonst vor einer Metzgerei. Victor, von hier ab solltest eigentlich du die Geschichte weiter erzählen!" 
Aber sein ohnehin schweigsamer Stammtischbruder schüttelte nur energisch den Kopf. 

"Also gut!", fuhr Werner fort. "Victor wusste um die Liebe des Terriers zur Musik und namentlich zu Männerchören. Und so fiel ihm denn auch, nachdem das kultivierte Tier das Zeitliche gesegnet hatte, die einzige angemessene und würdige Ruhestätte ein. In meiner Tante Gundulas Trauer tröpfelten Freudentränen, als er sie diskret in sein Vorhaben einweihte. Er bettete pietätvoll den Leichnam in einen Sack voll Mulch und nahm ihn mit zu seinem Arbeitsplatz. Das war ein Friedhof am Fuße des Siebengebirges, wie ihr vielleicht wisst. Und dort oblag unserem wortkargen und bescheidenen Freund, der alles Recht hätte, ein wenig stolz darauf zu sein, unter anderem auch die floristische Pflege eines Prominentengrabs, und zwar das eines populären Politikers, ein verdienstvoller Mann, hoch gerühmt von allen, selbst von denen, die in Opposition zu seiner Partei gestanden hatten, und der privat nicht nur ein Hundehalter und Hundefreund, sondern außerdem auch der Schirmherr des Kölner Männergesangvereins und Ehrendoktor des Konservatoriums gewesen war

In dessen geweihter Erde nun begrub heimlich und professionell unser Kamerad Victor die sterblichen Überreste des vierbeinigen Freundes seiner begnadeten, wenn auch in seinem Fall erfolglosen Lehrerin, meiner Tante Gundula. Und jedesmal, wenn sich zu runden Geburtstagen des verstorbenen Politikers oder an hohen Feiertagen wie Totengedenken, Volkstrauertag, Allerheiligen, Heilig Abend, Karfreitag, Ostern, Pfingsten, am Tag der Stadtgründung, dem Nationalfeiertag, dem Jubiläum des Gesangvereins und dergleichen Gedenktagen mehr an seinem prächtigen Ehrengrabe zahlreiche Würdenträger versammelten, Reden hielten, in denen der Verblichene ob seiner starken Persönlichkeit, seiner Verdienste und seiner ausgeprägten Affinität zu allem Musischen gepriesen wurde, und dazwischen dem Männerchor, dem Blasorchester oder den Meisterschülern des Konservatoriums mit ihren Instrumenten lauschten, stand auch Tante Gundula verträumt lächelnd unter den Versammelten, nickte zustimmend bei jeder lobenden Charakterisierung des Verstorbenen mit dem Kopfe und legte, sobald sich die Honoratioren und Angehörigen entfernt hatten, einen Strauß langstieliger Rosen oder ein der Saison gemäßes Blumengebinde nieder, meist mit einer Schleife und der Inschrift 'Unvergessen!' Und jenes Lächeln, das auf dem Friedhof bei allem Schmerz um den unersetzlichen Verlust - Tante Gundula ist niemals wieder eine Verbindung mit einem Haustier eingegangen - so sanft um ihre Lippen zu spielen pflegte, mag wohl nicht zuletzt auch der Tatsache geschuldet sein, dass keinerlei Sorge um die teuere Grabpflege ihr Gedenken schmälern konnte. Die Kosten übernahm nämlich der Staat."

Ein andächtiges Schweigen herrschte am Stammtisch wie nie zuvor. Da sagte Victor: "Und das wünscht sich Werner auch, ich soll später mal seine Urne in das..." Ungewohnt schroff fuhr ihm aber da Werner übers Maul und rief: "Du bist jetzt still!" Und Victor verfiel wieder in sein gewohntes Schweigen. 

[1]          Es gibt derzeit (2013) in Deutschland 120 Tierfriedhöfe, davon drei in Baden-Württemberg: In Mössingen, Reutlingen und Tübingen. Die Grabmiete für einen mittelgroßen Hund beläuft sich zwischen 110 und 150 Euro per annum. Grabsteine und Kreuze dürfen vorerst nicht aufgestellt werden.
Aus
Werners Seemannsgarn
Gesponnen von Eckhart Pilick. Mit Bildern von Max-Peter Näher. Verlag Peter Guhl Rohrbach/Pfalz 2013. 120 Seiten. ISBN 978-3-930760-70-1