Arno Reinfranks Poesie der Fakten

Arno Reinfrank überraschte immer wieder durch seine schöpferische Vielseitigkeit. Doch den Großteil seiner Schaffenskraft widmete er der Lyrik. Dreißig Jahre arbeitete er an seiner "Poesie der Fakten", unter welcher Bezeichnung seine "Gedichte wie Faustkeile" (er selber sprach einmal von "ldeogramrnen") entstanden sind. Ein neuer Gattungsbegriff ist damit von ihm geprägt und bis zum Jahrhundertwechsel in zehn Bänden mit dreitausend Gedichten belegt worden, die "singulär in der deutschen Literatur" sind. (Hedi Klee in: Poesie der Fakten Bd VI, S.127).

Unter dem Titel "Raketenglück" ist 2001 der letzte Band dieser Werkreihe erschienen. Er umfaßt einhundertzwei Gedichte von Fakt 1 bis Fakt 6, vom Himmel zur Erde, über das Tier zur Wissenschaft und schließlich zum Menschen, der freilich in allen Themenbereichen Adressat und Brennpunkt bleibt.

Man könnte das von vornherein auf zehn Bücher konzipierte und vollendete Werk in Verbindung setzen mit dem dekadischen System, mit den 10 Kategorien des Aristoteles, mit den zehn Sephirot, den lichtglänzenden Urbildern. Doch auch ohne die Kabbala zu bemühen oder eine Reinfrank immer suspekt gewesene Symbolik zu unterstellen, lassen sich unter den gewählten Abschnitten des 10. Buchs alle vorherigen Bände zuordnen. Unter "Der endlose Himmel" sind alle den Kosmos ansprechenden Texte unterzubringen, unter "Die zungengebundene Erde" die Themen terrestrischer Inhalte, die dann wiederum in Unterabteilungen wie "Das bedrängte Tier" und "Das frostige Kalkül" erfaßt sind. "Die treffende Wissenschaft" sowie "Der unfügbare Mensch" fassen die Themen menschlicher Aktivität zusammen. Sollten bei einer Gesamtausgabe, die nun nach seinem 70. Geburtstag zu wünschen und fällig wäre, eine Neuordnung dieserart getroffen werden, fielen bei feinerem Sortieren das Vorkommen botanischer Gleichnisse, die Häufigkeit ichtologischer Metaphernstämme, kritikaufgeladene Poltertexte garstigen politischen Inhalts auf. Kein symmetrischer Baum also wüchse aus solchem Inhalt, sondern ein windgeschlagenes Gewächs mit bunten Blüten, die im unübersichtlichen Weltendschungel leuchten.

Denn er stellte diese Fakten nicht willkürlich nebeneinander, gab sie nicht einfach nur wieder, sondern setzte sie kreativ in einen geistig-moralischen Zusammenhang, verdichtete sie so, daß sie mehr aussagen als eine noch so minutiöse sachliche Beschreibung. Darum ist er so modern. Er schrieb auf der Höhe des wissenschaftlichen Zeitalters. Dazu brauchte er kein Wissenschaftler zu sein. Aber ihm war bewußt, daß Fakten weniger durch ihre Eigenschaften als vielmehr durch ihre Verbindungen und Beziehungen zu anderen interpretiert werden müssen. Alle Fakten kommen uns in unserem analytischen Denken eigentlich beliebig vor. Doch sie sind ja unzertrennlich miteinander verwoben. "Nicht-Trennbarkeit" ist einer der gesichertsten Begriffe der Physik.

..Mein Auftrag lautet: Analysen
sind abzuliefern im Gedicht.
...
Wir segmentieren für das Mikroskop.
Das Sägeblatt zerbricht verschiedentlich
an Dogmen, hart wie Diamanten,
die überlassen wir dem Laserstrahl der Zeit.
(PdF V 89)

Wir würdigen die Poesie der Fakten als Dichtung, welche die der Naturwissenschaft eigene Methode des Zergliederns mit dem Synthetischen der Dichtkunst, die Poesie mit der Logik, das Denken mit der Phantasie versöhnt. Durch Reinfranks Gedichte wird der Leser über die Konfrontation mit harten verwirrenden Fakten in einen ästhetischen Raum hineingeführt, in dem er Mensch sein kann.

Arno Reinfrank war ein Moralist. Und wie alle Moralisten befand er sich in permanenter Gefahr, an der Welt und an der Menschheit zu verzweifeln. Aber eben nicht zu zerbrechen.

Bei aller Vielseitigkeit in der Wahl seiner Themen und Ausdrucksformen ist er konsequent und geradlinig gewesen. Er schwamm mit seinem Aufbegehren gegen das "amtliche Vergessen" der Verbrechen der Nazizeit stets gegen den oft befindlichkeitsseligen Strom deutscher Nachkriegsliteratur. Reinfrank hat sich niemals korrumpieren und verführen lassen - ungewöhnlich für einen Intellektuellen. Er ist ein Mann von Prinzipien gewesen und ihnen treu geblieben ohne Rücksicht auf persönliche Vor- oder Nachteile.

"Humanistischer Realismus" oder "realistisch-transzendenter Moralismus" sind die Begriffe, die einen Teil seines so breit und weit gefächerten Werks klassifizieren könnten. Das ist nicht bloß Gedanken-Lyrik. Denn die Verse enthalten unter der Gelassenheit und Ruhe, die sie atmen, Leidenschaft und Trauer, die vielleicht das Konstitutive der Fakten-Selektion ausmachen. Im Gedicht "Gestank" gelobt Reinfrank seinem Vater, den unseren Augen nicht mehr sichtbaren und zu einem Industrie-Standort verkommenen Schauplatz des Leidens Unschuldiger, das Lager der russischen Zwangsarbeiter für die IG Ludwigshafen, nie zu vergessen. So holt er die Entrechteten und Vergessenen ans Licht und macht die kollektivem Verdrängen anheimgefallene Vergangenheit wieder lebendig.

Die Gedichte enthalten manchmal Bilder, die Gänsehaut verursachen (so wenn Europa als Pompeji bezeichnet wird), oft auch Merk-Sätze für künftige Lesebücher zum Auswendiglernen:

" Wer Deutschlands Zukunft wissen will,
der soll die Banken fragen. "
(Im Leierkastenlied "Der Wohlstand").

Und wenn (im "Garten der Verrückten", S. 81) eine öffentlicher Kondolenz beim Pompbegräbnis einer blonden Prinzessin nur so "etwas wie Ehrlichkeit" zugeschrieben und dann vergleichend gemessen wird an des Dichters wahrer Trauer um eine zerschellte Weinbergschnecke oder eine zertretene Nelke, Chiffren für zwischenmenschliche Enttäuschungen darüberhinaus, dann ist das mehr als Faktizität - es ist verdichtetes Denken und Sprechen und darum Poesie. Die äußeren Bilder werden in (oder mit) inneren gespiegelt. Alles bleibt im Diesseits. Seine Entfremdung politisch begründet, beileibe nicht metaphysisch, selbst wenn es in einem seiner Gedichte heißt: "Auch ich bin ein Fremder auch ich" (S. 18).

Kein Wunder, daß er ein oft einsamer Einzelkämpfer geblieben ist. Darum war er um so mehr bedacht und angewiesen auf eine rege Korrespondenz mit Kohl und Kommunisten, Malern und Geschäftsleuten, Handwerkern und Wissenschaftlern aller Sparten, Dichterkollegen und Verlegern, die er sämtlich hartnäckig, stets postwendend Antwort heischend, sein Leben lang geführt hat. (Als Depositum steht sein Nachlass hier in der Landesbibliothek Speyer der Forschung zur Verfügung.) Diese Korrespondenz spiegelt die Vielseitigkeit seiner eigenen Facetten und Interessen wieder.

Auf alles wollte er sich einen Reim machen. Das Feld seiner Poesie ist die ganze Welt, die sichtbare wie die unsichtbare, wie man sie sonst, beispielsweise, nur unter dem Elektronenmikroskop zu sehen kriegt. In lyrischer Kürze, d.h. in metrisch gebundener Form, liegt in seiner Poesie der Fakten eine internationale, multikulturelle Enzyklopädie der Welterscheinungen vor uns. Seine Gedichte halten fest, was andere übersehen, verkennen oder schlicht nicht wissen (können oder wollen).

Er verfolgte den schwachen "Zigarrenrauch vom Direktorentisch bis über den Nordpol" (Fakten VI, S. 20), analysierte die 70 Lebensjahre des Regenwurms (S. 38), beleuchtete das Unscheinbare. Er betrieb ein poetisches Einmann-Labor, in dem er den Geist und den Ungeist der Zeit destillierte. Deswegen ist seine Kunst nicht nur "faktisch", d.h. auf Tatsachen statt auf Metaphysik und blindem Glauben beruhend, sondern auch "faktitiv", d.h. Wirklichkeit hevorbringend.

Reinfrank hat nach eigener Aussage versucht, mit seinen Ideogrammen "eine neue Enzyklopädie der Welteigenschaften zu bieten" - ein ganz bewußter Hinweis auf Diderot und d'Alembert und ihr 42-bändiges Monumentalwerk

Denn Reinfrank war der Aufklärung verpflichtet. Humanität ist sein Banner gewesen. Sicherlich war er ein poeta doctus, einer, der nicht ausschließlich in seinem eigenen Inneren nach Erkenntnissen und Einsichten suchte, sondern den Blick auf die Überfülle an Erscheinungen in der äußeren Welt richtete. Wer seine "informative Literatur" (so hat er sie selber einmal genannt) kennt, sieht, daß er das Hintersinnige in den Fakten selber findet. Im Detail steckt alles. Es ist auch nicht so, daß Resultate der Wissenschaft oder Tatbestände der Wirtschaft von ihm als Metaphern verwendet würden, nein, sie sind das Thema selbst. Wirtschaftlich-politische und wissenschaftliche Fakten verunsichern, und sei es schon dadurch, weil ihr Zusammenhang im Dunkel liegt und immer weniger Menschen immer mehr und viele immer weniger wissen. Durch seine Dichtung machte er aus dem Unvertrauten Vertrautes.

Natürlich stand auch Reinfrank mit seiner Vorliebe für Präzision, Eindeutigkeit und Objektivität in der subjektivsten aller literarischen Spielarten auf den Schultern anderer und gab es auch zu. Poesie überhaupt und Fakten-Lyrik im Speziellen sind keine normativ konstruierten Termini, mit denen man nun einfach literarische Texte klassifizieren könnte. Das Problem haben wir mit anderen Zusammensetzungen ja auch: Es gibt Natur-Lyrik, Liebes-, Kriegs-, Öko-, Barock- und Computer-Lyrik, expressionistische und politische und eben: Poesie der Fakten. Diese erschien Reinfrank als der zeitgemäße Ausdruck, die Materie zu enträtseln und auch die Technik zum Gegenstand der Lyrik - das heißt aber: die Welt in ihrem Wandel heimisch zu machen.

Reinfrank verknüpft das Alte mit dem Neuen, und dadurch läßt er sich uns in dieser verwirrend unübersichtlichen Welt der Fakten zu Hause fühlen. Alle möglichen Details, also "die" Fakten, werden in seinen Strophen in oft verblüffende Nähe zu unserem Alltag gerückt.

Dennoch sind seine Gedichte keine Lyrisierung des Alltäglichen. Er verarbeitet die Fakten, macht sie zu Collagen und auf diese Weise aus den Splittern wieder etwas Ganzes. Man spürt aber darin die Spannung zwischen Rationalität und Vision, Phantasie und Detailtreue, zwischen Konzentration (auf eine einzelne "Tatsache") und einer Universalität der Weltanschauung, die Analogie zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Einheit alles Lebendigen und die neugierige Freude auf neue Erkenntnisse.

Der geistreiche Leipziger Epigrammatiker und Mathematiker Abraham Gotthelf Kästner (1719 - 1800) dichtete:

"Mich reizet nur ein Lied von tiefem Denken voll,
Gemacht, daß man es mehr als einmal lesen soll."

Das ist ganz in Reinfranks Sinne. Doch ist Brecht sein Gewährsmann. "Ist das lyrische Vorhaben ein glückliches, dann arbeiten Gefühl und Verstand völlig im Einklang", notierte der einmal. Reinfrank hat das als Richtschnur beherzigt. Bei aller Aversion gegen "sentiments", trotz seines Mißtrauens gegen pseudoromantische Gefühlsduselei und esoterische Schwärmerei, hat er in unserer lebensfeindlichen Kalkulationswelt mit dem Profit als oberster Richtschnur, in unserem wissenschaftlichen Zeitalter des Aberglaubens, der Poesie ihren Platz verteidigt. Er hat moderne Verse geschrieben, indem er Technik und Lyrik, Wissenschaft und Moral kompatibel gemacht, die Überwindung des Trennenden durch einen vertrauten Sinn-Kontext in seiner Poesie der Fakten zur Sprache gebracht hat.

Klaus Walther rühmte 1985 Arno Reinfrank und sagte: "Er schreibt Mutgedichte für sich und seine Leser." "Mutgedichte" sind sie, weil ihnen an Stelle raunender Realitätsverleugnung Durchdringung der Wirklichkeit zugrunde liegt, weil sie bei aller Komplexität verstanden werden wollen und darum auf alle Chiffrierungen verzichten, die so oft Vieldeutigkeit suggerieren oder unredlich mehr vortäuschen als sie tatsächlich verbergen.

Vor nicht allzu langer Zeit gehörte die Dunkelheit zur Lyrik wie der Bart zum Propheten. Gottfried Benn sah es geradezu als die Aufgabe des Dichters, "die entscheidenden Dinge in die Sprache des Unverständlichen (zu) erheben", sich an Dinge hinzugeben, "die verdienten, daß man niemanden von ihnen überzeugt."

Im Gegensatz dazu war Klarheit (nicht zu verwechseln mit Widerspruchsfreiheit) Reinfranks Ziel beim Arbeiten. Daß dahinter als Werkmittel Alliterationen, Reime, Vokalangleichungen einherkommen, versteht sich von selbst. Enjambements erfreuten ihn offenbar ebenso wie sengende Wortstiche

Die Rolle der Natur in seinem Werk zu beschreiben, würde den Rahmen hier sprengen. Aber sie erscheint stets als Ganzheit, als etwas Urgegebenes und Letztes, hinter oder über das zurück- oder hinauszuschreiten sinnlos ist.

Und das hat er mit Goethe gemeinsam, dem die Fakten, in denen er bisweilen vielsagende und unendlich deutbare Urphänomene erkannte, alles sagten. Wer hinter der Natur ein metaphysisches Ideenreich oder einen außerweltlichen Lenker sucht, den verglich Goethe mit einem Kind, das hinter den Spiegel schaut, um die Ursache der Erscheinungen zu entdecken.

So nimmt es denn nicht Wunder, daß der Weimaraner schon damals in der deutschen Literatur den so spät nach ihm geborenen Arno Reinfrank vermißte, oder doch das, was uns schließlich Arno Reinfrank geschenkt hat. Goethe beklagte nämlich, der deutschen Poesie fehle es an einem öffentlichen und nationalen Gehalt, sie drehe sich in einem gemütlichen (= gemütvollen) Privatkreise; "diese Richtung hat sie nie verlassen..." - (sie) bringt, beklagt er, "eigentlich nur Ausdrücke, Seufzer und Interjektionen... kaum irgendetwas geht ins Allgemeine, Höhere; ... was Staat und Kirche betrifft, ist gar nichts zu merken." Und er mahnte: "Der begabteste Dichter sollte es sich zur Ehre rechnen, auch irgendein Kapitel des Wissenswerten ... behandelt zu haben." Arno Reinfrank wollte mit seiner Poesie der Fakten genau diesen Anspruch erfüllen.

Die Anregung zu seiner "Poesie der Fakten" bekam Reinfrank 1968 durch das Werk des schottischen Dichters Hugh McDiarmid (1892-1978), mit dem er 1968 Freundschaft schloß und dessen Gedichte er auch übersetzte.

ECKHART PILICK
Rheinland-Pfälzische Arbeiten zum Buch- und Bibliothekswesen Heft 22. Speyer 2004.