"Breslau - Krater eines Vulkans"
  

Reminszenzen beim Besuch der ersten freireligiösen Gemeinde

Auch in Breslau erwarten die Siebenten-Tags-Adventisten die Ankunft des HErrn. Stattdessen erschien Frau Reuther. Sie ist die rührige und verantwortungsbewußte Vorsitzende der Freireligiösen Gemeinde Berlin und hatte mit ihren Getreuen eine Reise zur Wiege des Deutschkatholizismus in Polen organisiert. In der Hauptstadt Schlesiens, in Breslau, dem heutigen Wroclaw, konnte sie mit viel Geschick und dank der einheimischen Dolmetscherin und Reiseführerin gegen anfängliche Widerstände erreichen, dass wir in der alten Feierhalle der allerersten deutschkatholischen Gemeinde freundlich empfangen wurden.1 Von der Religionslehrerin im Nebenraum wurden wir indessen offenbar als Störenfriede bei der Sonntagsschule angesehen.

Er wirkt schlicht, sakral und doch intim, dieser ehemalige Tempel des freien Geistes, der am 10. Juni 1862 von den Freireligiösen eingeweiht worden war und der die kolossale Zertrümmerung der Stadt Ende des Zweiten Weltkriegs überstanden hat. Nach 1946 fanden hier zunächst Gottesdienste der russisch-orthodoxen Kirche, dann die der Baptisten statt, bevor nun die Adventisten sich in ihm zu Sabbatdienst und religiöser Unterweisung versammeln.

Die kleine Schar der Freireligiösen mag damit zufrieden sein, dass die schöne Feierhalle im durch und durch katholischen Polen immerhin nun diese Bestimmung gefunden hat. Die Adventisten sind natürlich Christen und legen die Bibel im Vergleich zu Theologen etwa aus dem Bund für Freies Christentum (man lese seine Zeitschrift!) recht fundamentalistisch und kreationistisch aus, sie missionieren zwar auch, respektieren jedoch aus Prinzip religiöse Gewissensfreiheit; sie lehnen Priester als Mittler ab und glauben stattdessen an den unmittelbaren Zugang zu Gott; sie erheben nicht den Anspruch auf eine gänzlich neue Lehre, sondern wollen auf alten Wahrheiten gründen; und dass sie vor einem furchtbaren Ende der menschlichen Welt warnen und auf einen grundlegenden Wandel warten, läßt sich ohne weiteres in nicht-religiöse und vernünftige Aussagen transponieren. (Außerdem haben sie die Cornflakes erfunden.)

Die Freireligiösen können's also zufrieden sein. Schließlich sind wir ja selber mit daran schuld, dass unsere Gemeinden in der Gesellschaft kaum noch Relevanz besitzen. Es gab einst kraftvolle Gemeinden und Landesverbände, deren Mitglieder, froh, sich um inneres Wachstum und organisatorische Zusammenarbeit nicht sonderlich kümmern zu müssen, dergleichen Obliegenheiten bequem und achselzuckend ihren Sprechern, Predigern oder Pfarrern (deren Qualifikation - sagen wir mal: als Lateinehrer - außer Zweifel stehen) bzw. ihrem Vorstand überlassen. Der kann dann mit ein paar Anhängern eine Landesgemeinde von ihrer hundertfünfzigjährigen Geschichte abkoppeln und selbstverständliche Allgemeinplätze als Grundsätze verkünden, die nicht zur Profilierung beitragen, sondern das ausdrücken, worüber sowieso bei allen humanistischen Gruppierungen Konsens besteht. Humanistische Wertvorstellungen sind das Gemeinsame, auf das sich die verschiedenen Konfessionen und Religionsgemeinschaften als das Verbindende berufen. Gewiss gibt es in der Praxis immer viel zu monieren.

Exemplarisch steht für diese "Entwicklung" der freireligiösen Bewegung auch die altehrwürdige Gemeinde Breslau. Spaltungen und Zerwürfnisse hatten sie neben der staatlichen und polizeilichen Drangsalierung und Verbote gebeutelt und geschwächt. Kaum zu ermessen und wenig bekannt ist, was an wertvoller Substanz dadurch unwiederbringlich in Vergessenheit geraten ist. "Breslau war dem Krater eines Vulkans zu vergleichen, aus welchem die glühende Lava weithin ausgeschleudert wurde."2

Bereits einige Jahre vor dem Offenen Brief des Johannes Ronge gegen die Ausstellung des Heiligen Rocks und das "Götzenfest" in Trier hatte der katholische Theologe Johann Anton Theiner (1799 - 1860) mit seinen kirchenkritischen Schriften auf Reformen in der Kirche gedrungen und 1828 ein voluminöses Werk über und gegen das Zölibat veröffentlicht 3. Er verlor dadurch seine Professur an der Universität Breslau, trat im Sommer aus der Kirche aus und der deutsch-katholischen Gemeinde bei. Im Oktober 1845 wurde er exkommuniziert (Ronge übrigens erst am 4. Dezember) und wirkte als Seelsorger und Prediger bis zum Februar 1846.

Neben Theiner machten damals zahlreiche prominente Personen aus Universität und Bürgertum durch ihre Reformbestrebungen von sich reden, die sich öffentlich gegen die "Unvernunft und Tyrannei der römischen Hierarchie" 4 empörten, und so kam es, dass Ronge schon einen Monat nach Erscheinen seines Sendschreibens aus der tiefsten schlesischen Provinz zum 23. November 1844 nach Breslau, der größten Stadt Preußens nach Berlin, eingeladen wurde.

Diese Einladung war eine Trotzreaktion auf die heftigen Angriffe des Domkapitulars Förster gegen Ronge und seinen Brief. Der angesehene Fabrikant, Stadt- und Landrat Carl Milde, ein enger Freund Hoffmann von Fallerslebens, (der war 1823 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Breslauer Unibibliothek gewesen), lud für Sonntag, den 15. Dezember 1844, zu einer ersten öffentlichen Versammlung ins Rathaus ein. Darunter war der Professor der Rechte an der Fakultät, Dr. Michael Eduard Regenbrecht. 

Doch nicht der Geistliche Theiner, nicht der Fabrikant Milde und nicht der Universitätsprofessor, sondern ein Künstler, "der Maler Professor Albrecht Höcker … erlies (im Dezember 1844) den entscheidenden Appell: ‚Vorwärts! Versammelt euch um unseren Johannes Ronge! Er sei unser Hirt und Seelsorger!" 5 Wegen der Zensur konnte er nur unter der Hand verbreitet und erst am 5. Februar 1845 veröffentlicht werden, und zwar in Leipzig, wo Robert Blum am 19. Januar proklamiert hatte: "Trennung von Rom! Eine deutsch-katholische Kirche!"

Albrecht Höcker, Oberlehrer an der Breslauer Bau- und Handwerksschule, hatte sich große Verdienste um die schlesische Glasmalerei gemacht. So schreibt Wilhelm Wackernagel, "dass Höckers Glasbilder, sowohl was die Sicherheit der Technik als was die künstlerische Vollendung betrifft, alles weit hinter sich lassen, was bisher auf diesem Felde hervorgebracht worden" sei. 6

Im Sitzungssaal des Elisabeth-Gymnasiums, wo die Stadtverordneten seinerzeit tagten, versammelte sich am 22. Januar 1845 eine große Anzahl Breslauer Bürger, und schon nach wenigen Zusammenkünften konnte hier am 16. Februar 1845 die erste freie Gemeinde Deutschlands gegründet werden. Drei Wochen später zählte sie über zweitausend, um Ostern desselben Jahres schon siebentausend Mitglieder. Die Leitung übernahm zunächst Professor Regenbrecht. Er starb am 8. Juni 1847 an der Cholera. Von da an bis zur polizeilichen Schließung stand ihr Nees von Esenbeck vor.

In der Gemeinde Breslau, die zusätzlich zu Mitgliedsbeiträgen und Spenden noch jährlich über dreitausend Mark Zuschuss vom Magistrat (bis 1847) verfügte, predigten neben dem landauf landab umjubelten Ronge und dem gelehrten Theiner bald die beiden ehemaligen protestantischen Theologen Theodor Alexander Constantin Hofferichter und E. Vogtherr. Der erstere war vorher Rektor der evangelischen Stadtschule gewesen.

Das wohl berühmteste Mitglied der Gemeinde war der vielseitige Philosoph und Naturforscher Nees von Esenbeck, Professor der Botanik an der Universität Breslau (siehe dazu meinen Artikel im "Lexikon" 7). Durch ihn entwickelten sich die Predigten mehr und mehr von einem polemischen Antiklerikalismus hin zu einem naturwissenschaftlich begründeten Pantheismus. In der Praxis aber sah Nees die Aufgabe der Religionsgmeinschaft in der sozialen Arbeit, besonders in der Armenpflege. Nees begründete u.a. den Arbeiter-, einen Armenpflege- und Krankenkassenverein, wurde wegen seiner sozial-politischen Aktivitäten seiner Professur enthoben, und zwar ohne Pension, so dass er am Ende mittellos in einer Dachkammer starb. Sein eigenes Vermögen hatte er an Kranke und Hilfsbedürftige ausgegeben.

Am 17. Februar 1852 wurde mit der Begründung, sie sei ein politischer Verein, die freireligiöse Gemeinde Breslau polizeilich verboten und ihre Akten beschlagnahmt. Die Gemeindeschule wurde geschlossen. Der Prozess dauerte drei Jahre, während der es zur Abspaltung und vorläufigen Gründung einer zweiten Breslauer Gemeinde kam. Erst nach der Wiedervereinigung ab 1859 kann von einem geregelten Gemeindeleben die Rede sein. Hofferichter wurde wieder zum Prediger gewählt.

Interne Zwistigkeiten gab es aber nach wie vor. Breslau steht darum exemplarisch für die oft kleinkarierten Sonderwege der Freireligiösen, Zwistigkeiten, "welche der Bewegung schaden mussten, weil sich niemand gern unter streitende Brüder setzt" 8 . Manche halten das für Individualität. Als ich seinerzeit mein Amt in Baden antrat, war ich noch darüber erstaunt, dass die Gemeinde Mannheim zwar mit dem Universum per Du war, aber absolut nichts mit den Gesinnungsfreunden in Ludwigshafen auf der andern Rheinseite zu tun hatte - trotz der Brücken. Als Jahre später die einen aus dem Bund freireligiöser Gemeinden austraten wegen einer zu starken und die andern (nahezu gleichzeitig!) wegen einer zu geringen religiösen Komponente der übrigen Organisationen, passte das dann schon ins historische Bild unserer "Bewegung".

Die Geschichte Breslaus ist wie gesagt dafür ein Exempel. Wollte einst Anton Theiner nicht im Schatten Ronges stehen, hatten Regenbrecht und andere sich über die vielen Reisen ihres Seelsorgers geärgert, wurde Nees von Esenbeck vorgehalten, Armenfürsorge, Arbeitsvermittlung und Krankenversicherung seien Sache des Staates und nicht der Religionsgemeinschaft, so wurde nun Hofferichter heftig kritisiert, weil seine Feierstunden zu wenig religiöse Erbauung böten, eher naturwissenschaftlichen Vorträgen als Predigten ähnelten. Ein anderer Teil der Mitglieder konnten wiederum Orgel und Choräle nicht mehr ausstehen. Am 1. Oktober 1864 - genau zwanzig Jahre nach Ronges Offenem Brief - sprachen 52 von 80 Anwesenden einer Gemeindeversammlung (die Gemeinde zählte noch über 400 Mitglieder) offiziell ihre Unzufriedenheit mit dem Prediger aus. Ronge wurde als Schlichter gerufen, doch am 3. Dezember kam es zum Schisma. Nun gab es wieder zwei Gemeinden. Die alte stand hinter Hofferichter, die abgespaltene stellte Dr. Binder als Prediger ein, einen ehemaligen Jesuiten und Theologieprofessor. 1870 einigten sich freilich beide Teile auf gemeinsame Nutzung der Feierhalle, die am 10. Juni 1862 eingeweiht worden war, als einem "Asyl für das freie Wort"9 

Mit dem Jesuswort "der Allerhöchste wohnet nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind" (Apostelgeschichte 7,48) begann der Prediger Hofferichter seine Einweihungsrede und schloss mit den Worten: "Nicht der äußere Tempel ist die Hauptsache, sondern der innere Tempelbau. Uns selbst sollen wir erbauen zu einem Tempel des lebendigen Geistes …..Nun wohlan! So lassen Sie uns… fördern die schöne Aufgabe unseres Lebens, fördern die Religion des Geistes, die Religion der Vernunft, die Religion der Humanität, fördern unseres Volkes und der Menschheit ew'gen, heiligen Tempelbau!"

ECKHART PILICK

Wege ohne Dogma. Heft 11/2009
1 Peter Reuther hat in WoD 9/2009 die Begrüßung durch einen der Ältesten der Gemeinde in seinem Reisebericht erzählt.
2 Ferdinand Kampe, Geschichte der religiösen Bewegung der neuern Zeit. 1. Bd S. 84
3 Dr. Johann Anton Theiner und Augustin Theiner, Die Einführung der erzwungenen Ehelosigkeit bei den christlichen
  Geistlichen und ihre Folgen. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte. 2 Bände. Altenburg 1828.
  In Leipzig erschien 1845 sein kirchenkritisches Werk: Die vom römischen Papsttum befreite Deutsch-katholische Kirche
  oder Paragraphen zu einer Verfassungsurkunde derselben.
4 Heinz Hoffmann,Monatsschrift von und für Schlesien S. 562
5 Gustav Tschirn (Breslau), Zur 60jährigen Geschichte der freireligiösen Bewegung. Gottesberg 1904. S.13
6 In: Heinz Hoffmann, Monatsschrift von und für Schlesien S. 562.
7 Eckhart Pilick, Lexikon freireligiöser .Personen. Rohrbach/Pfalz o.J. S. 11-114.
8 Walter Nigg, Geschichte des religiösen Liberalismus. Zürich und Leipzig 1937. S.199.
9 Festrede zur Feier der Grundsteinlegung und des Reformationsfestes am 29. September 1861. In: Th. Hofferichter: Unsere Halle. Beiträge zur erinnerung an die Feier der Grundsteinlegung und an die Feier der Einweihung. Breslau 1862