Die Kiste im Blömeling
Erinnerungen an den Blücherpark in Köln 

Geburtstage wurden früher bei uns zu Haus nicht so aufwendig gefeiert wie nachher von den 60er Jahren an. An meinem zwölften Geburtstag, am Dienstag, den 4. Juli 1950, habe ich gegen acht Uhr abends mit einem alten Militärspaten bewaffnet im Blücherpark ganz hinten an der dichter als anderswo mit Bäumen und Büschen bewachsenen Nordgrenze heimlich eine Kiste vergraben. Es handelte sich um eine kleine verbeulte Stahlkassette mit kaputtem Schloss, die ich einmal in einem Trümmergrundstück am Takuplatz gefunden hatte. Hinein tat ich einige mir wertvolle Dinge wie ein paar Serien Liebigbilder, eine elfenbeinerne Billardkugel, einen Bombensplitter aus unserem Luftschutzkeller und andere Pretiosen, die von meiner Mutter nicht gegen ein paar Kartoffeln verhamstert worden waren. Ich plante - aus Abenteuerlust und wegen schlechter Noten in Latein und Mathematik - in den Sommerferien endgültig aus Köln zu verschwinden und mich in Koblenz zur Fremdenlegion zu melden. Seit drei Jahren stand ich in harmlosem Briefwechsel mit einem Freund meines Bruders Ernst in Saigon, der 1947 zur Legion gegangen war und sich seitdem Axel von Eddendörr nannte. In Indochina wollte ich dann desertieren und wilde Wasserbüffel jagen.

Meine Erinnerungen an den Blömeling, wie die Kinder den Park nannten, reichen bis in den Sommer des Jahres 1945 zurück. Auf einem offenen Lastwagen mit Holzvergaser ist meine Familie im Juni dieses Jahres aus Dermbach bei Herdorf im Siegerland, wo wir evakuiert waren, nach Ehrenfeld in die Iltisstraße 36 heimgekehrt. Mein Vater machte mit mir und meiner jüngeren Schwester Erika oft Sonntagsspaziergänge in den Park. Kaum noch nachvollziehbar, doch es war damals eine kleine Attraktion für uns, wenn wir auf den steinernen Löwen reiten durften. Mit acht oder neun las ich neben "Tembo - die Geschichte eines afrikanischen Elefanten" von Niels Meyn auch bald schon die Reiseschilderungen Schomburgks und Hagenbecks, und oben auf einem der Löwen sitzend verwandelten sich vor meinen Augen Wiesen und Bäume rasch in Savanne und Dschungel. 

Ab und zu bin ich mit meinem Vater an der Hand durch den Park nach Nippes gegangen, wenn wir Tante Maria, die älteste Schwester meiner Mutter, und ihre Tochter Gertie, besuchen wollten, die in der Blücherstaße am Leipziger Platz wohnten. 

Straßenbeleuchtung und Bahnen gab es noch nicht wieder, und wenn wir im Dunkeln zu Fuß den gut einstündigen Rückweg durch die Trümmerstraßen und den Park antraten, hielt mein Vater wegen möglicher Überfälle einen Schlüsselbund ähnlich einem Schlagring in der Faust, blieb immer in der Mitte der Straße oder des Wegs, ging niemals dicht an Büschen oder Häusern vorbei. In der Nacht kam mir der Blücherpark dann doch einigermaßen urwaldähnlich, gefährlich und verwunschen vor. 

Im Park fuhren wir Kahn, nur ab und zu und nur an Sonntagen, denn wir waren ziemlich arm. Mein ältester Bruder Ernst lief hier Schlittschuh. In jedem Winter, so jedenfalls kommt es uns in der Erinnerung vor, war der Weiher zugefroren. Ich kann mich gut an die Schilder "Bürger schützt eure Anlagen!" erinnern; mein Vater machte Wortspiele darüber, die ich aber damals nicht verstand.

Bei den Spaziergängen kletterten meine Schwester Erika und ich gern auf Bäume. Kam ein Gärtner, pfiff unser Vater "Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern", und wir gingen sofort in Deckung. Der Gärtner übte die Funktion eines Parkwächters aus, schritt mit ganzer Strenge ein, wenn Hunde nicht an der Leine geführt wurden oder die Pänz im Gebüsch tobten. Wurde er entdeckt, erscholl sofort der Warnruf: "Dä Jääsch kütt!"

1946/47 setzte uns der eisige Winter arg zu. In unserer Wohnung gab es nur einen Herd und ein schmales Kachelöfchen im Wohnzimmer. Unsere sechsköpfige Familie hielt sich jedoch während der kalten Jahreszeit tagsüber und abends ausschließlich in der Küche auf. Wir schlichen damals im Dezember nachts durch den Park, weil meine Brüder Ernst und Erich dort zahlreiche Bäume ausgekundschaftet hatten, die vor dem Krieg gepflanzt und nun herangewachsen, aber noch mit etwa ein bis zwei Meter hohen Pfählen abgestützt worden waren. Mit dicken Kordeln waren die mit den Stämmen zusammengebunden. Unser Vater meinte, die Pfosten wären jetzt für die erstarkten Bäume völlig überflüssig. Wir nahmen sie einschließlich der zerschnittenen Seile mit und hatten so wieder für ein paar Tage Brennholz, das sonst nicht zu kriegen war. 

Unsere Nachbarn klauten zwar wie fast alle andern zuweilen Briketts am Bahndamm, wenn dort ein bewachter Kohlengüterzug stand, und ein paar Mal war ich auch dabei, oder sie sprangen unten auf der Iltisstraße auf vorbei fahrende Lastwagen und schmissen so viel wie möglich auf's Pflaster. Das war riskant, und ich war seinerzeit häufig krank und ziemlich unterernährt, so dass ich nicht gut wegrennen konnte. Im März 1946 hatte die britische Militärregierung jedem Kölner 1000 Kalorien pro Tag zugebilligt, im Sommer 1946 bloß 775 und im Winter 1947 waren es nur noch 755 Kalorien, wie ich in der Chronik Köln von Carl Dietmar nachgelesen habe (3. Aufl. Gütersloh und München 1997, S.429).

Mein Bruder Ernst, geboren 1927, erinnert sich nicht gern an den Blücherpark. Mittwochs und samstags musste dort während der Nazizeit das Jungvolk antreten, zu dem man ab zehn Jahren gehörte. Er schwänzte oft, vor allem, wenn die Sonne schien. Meine Mutter musste ihn dann wegen Erkältung, starker Kopfschmerzen oder Durchfall entschuldigen. Bei schönem Wetter wurde nämlich auf der großen Wiese Fußball gespielt. Mein Bruder hasste das. Heim- und Leseabende an Regentagen waren ihm lieber.

Neben den Trümmergrundstücken am Takuplatz bildeten die Anlagen des Blücherparks bald die Jagdgründe meines Indianerstammes. Häuptling war der Draufgänger Willi Kügeler aus der Ennenstraße - er wanderte später mit seiner Mutter nach Detroit aus -, und ich war Medizinmann. In dieser Eigenschaft habe ich mal mitleidlos aus Ameisen in einer alten rostigen Konservendose Gift für unsere Pfeile gekocht. Ich spende heute regelmäßig für Tierschutz und Greenpeace, um Buße zu tun, und lebe weitgehend vegetarisch. Nägel, die wir vorher mit der Spitze auf die Straßenbahnschienen zwischen Lenau- und Takuplatz gelegt hatten, wurden vorn in den Schaft befestigt. Die Bogen bestanden aus starken Riedstöcken. Der kräftige Willi konnte damit quer über den ganzen Weiher bis ans andere Ufer schießen. Es ist aber trotzdem nie etwas passiert.

Was uns beim Indianer- und Versteckspielen hier allerdings störte, war diese geometrische Übersichtlichkeit der gezirkelten Anlagen, die schnurgeraden Wege und Alleen, die Symmetrie der Haine und der tiefer gelegene und von riesigen Pappeln gesäumte, ganz und gar nicht romantische Weiher, eher ein Bassin, angesichts dessen man sich kaum an die Stromschnellen und Seen aus den Romanen Coopers, Gerstäckers oder Karl Mays versetzen konnte. Nur am Wegrand gab es Buschwerk, Hecken und gelegentlich dichtes Unterholz, wo wir uns tarnen konnten, aber immer wieder durch patrouillierende Gärtner aufgescheucht wurden. Immerhin hatte ich während der drei letzten Kriegsjahre oft allein ausgedehnte Streifzüge durch die Mischwälder um Dermbach herum unternommen, zumal wir dort sehr beengt, mit sechs Personen nur in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, untergebracht waren. Diese gebändigte Natur im Park war also insofern ziemlich enttäuschend.

Auf der großen Wiese am Nordsaum fand später in den Sommerferien die so genannte Stadtranderholung statt. Dieser weitläufige Teil des Parks war damals relativ menschenleer, erschien an den Rändern weniger aufgeräumt und war darum die bevorzugte Gegend für unsere Kriegspfade. Jogger waren unbekannt, Spaziergänger allenfalls am Sonntag zu sehen. Und vor allem hörte man keinen Lärm, nur Vogelgezwitscher.

Unter den Kastanien auf den schattigen Plätzen oberhalb des Weihers, da, wo es früher auf dem einen ein rundes Planschbecken und auf dem andern ein Büdchen gab, fanden in der Dämmerung manchmal regelrechte Zweikämpfe statt: Zwei junge Männer, umringt von ihren Kumpanen und ihren Mädchen, prügelten sich blutig. Uns gaffenden Kindern taten sie nichts. Man erzählte, diese Krade kämen aus einer Barackensiedlung in Ossendorf. Baracken, berichtet mir mein ältester Bruder, standen während des Krieges auch in Butzweilerhof; dort ist er mit seinen Klassenkameraden als Flakhelfer stationiert gewesen.

Von diesem Plateau führten breite Treppen hinab zu einem schönen Blumenbeet, das mit einer Mauer vom Wasser getrennt war. Auf den Bänken neben der Mauer sah man oft alte Männer sitzen, die rauchten und Karten spielten. Diese Ecke da unten war ein Idyll. Jahre lang bin ich nicht mehr dort gewesen, erst als Student zog es mich einmal aus irrationalen Gründen wieder hin:

Während der Kubakrise rechneten viele mit einem atomaren Weltkrieg. Am Tag, als sich die Krise dramatisch zuspitzte und der Rundfunk immer wieder sein Programm für Sondermeldungen unterbrach, verabschiedete ich mich von meinem Vater; auch er rechnete mit dem Schlimmsten, wollte aber, wie schon während der Fliegeralarme früher, zu Hause bleiben. Ich aber hatte einen Horror vor brennenden und zerbombten Häusern, darum wollte ich lieber im Blücherpark sterben oder, vielleicht, sogar überleben. Ich saß stundenlang auf der Bank am Weiher. Da ich irgendwo einmal gelesen hatte, dass durch die zahlenlosen Luftangriffe mehr Menschen innerhalb als außerhalb der Schutzräume ums Leben kamen, würde es bei einem Dritten Weltkrieg erst recht nicht drauf ankommen. -

Ab 1947/48 führte bei Wind und Wetter montags bis samstags mein Schulweg zum Humanistischen Gymnasium (später Neusprachliches Gymnasium mit altsprachlichem Zweig und heute Vinci genannt) in Nippes von der Iltisstraße über die Heidemannstraße durch den Blücherpark. Von zu Hause bis zum Eingang des Parks direkt hinter der Arnimstraße brauchte ich fünf Minuten. Gleich hinter dem Ausgang, dort, wo sich heute eine ausgedehnte Schreberkolonie erstreckt, kam man an den Überresten einer ehemaligen Ziegelei vorbei, und dann führte ein mit Bäumen gesäumter Weg an Kornfeldern entlang bis zur Eisenbahnunterführung am Mauenheimer Gürtel. 

Schon auf dem Feldweg hatten mich meine Ehrenfelder Klassenkameraden Franz Sieben und später auch Dieter Kratzsch auf ihren Rädern eingeholt und so auf ihre Weise dazu beigetragen, dass ich noch heute als alter und unsportlicher Mann die Mitleid erregenden Power-Walker mit oder ohne ihre lächerlichen Stöcke mühelos überholen kann. Auf dem gesamten Heimweg fuhren die beiden neben mir her. Erst in den letzten Schuljahren nahm ich dann öfter die Straßenbahn.

Mit der Eisenbahn-Unterführung - hier verlief für mich die gefühlte Grenze zwischen Ehrenfeld und Nippes, das damals unbebaute Gelände davor bis zum Blücherpark war Niemandsland - verbinde ich noch heute ebenso eindrucksvolle wie unangenehme Erinnerungen:

Bis hierher ging ich nach der Schule von Sexta bis Quarta zusammen mit einem Schulfreund aus dem Bilderstöckchen. Der hatte sich, unglaublich aber wahr, mit einer Eidechse angefreundet. Wir kletterten die Böschung hinauf und setzten uns neben die Schienen. Dann machte er ganz leise Schnalzlaute und strich mit seiner Hand über den Schotter, und auf einmal erschien die grüne Echse vor uns und ließ sich von ihm mit dem Finger streicheln. Eines Mittags warteten wir wieder auf das Tierchen, als plötzlich ein Bahnwärter auf uns zugerast kam. Wir flüchteten vor ihm die Böschung hinab, aber unten erwischte er mich und hielt mich an den Haaren fest. Ich habe wie am Spieß gebrüllt und sträubte mich so heftig, dass er mich schließlich losließ. Den ganzen Tag schmerzte mir die Kopfhaut. Ich vermute, dass hier mein frühzeitig begonnener Haarausfall seine Ursache hat. Wir trauten uns von da an nicht mehr auf den Bahndamm und haben unsere Eidechse nie wieder gesehen. 

Positiv und nachhaltig eingeprägt hat sich mir dagegen eine andere Begegnung im Blücherpark. Ich war auf dem Heimweg aus der Schule in Nippes, als unversehens ein wolkenbruchartiger Regen niederging. Ich stellte mich unter einen Baum neben zwei große Jungen, sie mochten vielleicht so sechzehn oder siebzehn Jahre alt gewesen sein, und wollte abwarten, bis die stärksten Schauer vorüber waren. Da standen wir jedoch ziemlich lange, schwiegen und froren erbärmlich. Alle paar Minuten blickte der jüngere zum schwarz verhangenen Himmel hinauf und sagte: "Es klart mächtig auf!" 

Das klingt mir immer noch im Ohr, als sei es gestern gewesen: die ergiebigen Niederschläge aus einem finsteren Himmel, der nicht im Entferntesten Anstalten machte, aufzuklaren, sondern einen heftigen Dauer- und Landregen auf uns prasseln ließ, und dann der Junge, der da klatschnass nach oben schaute und immer wieder zuversichtlich murmelte: "Es klart mächtig auf!" Wenn der wüsste, wie sich mir sein optimistischer und trotziger Gleichmut ins Gedächtnis geprägt hat! 

Am eindrucksvollsten in Erinnerung geblieben ist allerdings etwas anderes, nämlich die Begegnung mit Billy Jenkins. Bei ihm habe ich einige Male die Schule geschwänzt. Und er hat es gewusst, aber nichts gesagt. Die Besuche gingen nur eine kleine Weile, dann war sein Wagen plötzlich wieder verschwunden.

Eines Mittags nach dem Unterricht, ich glaube, es muss 1950 oder 1951gewesen sein, erblickte ich auf dem Heimweg ein paar Meter vor dem Blücherpark, auf der linken Seite ein paar Meter vom Weg entfernt im unbebauten Gelände, einen sonderbaren Zirkuswagen. Damals gab es da, wo heute längst Wohnhäuser stehen und eine Autostraße entlang führt, noch landwirtschaftlich genutzte Wiesen und Felder.

Fasziniert blieb ich vor dem phantastischen Wohnwagen stehen. Zwei Gartenstühle standen davor, von einer Stange hing vorn eine Schnur, und oben drauf saß ein riesiger Raubvogel (mindestens ein Bussard, vielleicht ein Falke, damals aber hielt ich für einen Adler), und ein großes buntes Plakat zeigte den mir seit kurzem erst durch Groschenheftchen wohl bekannten Artisten. Die Tür stand offen. Eine freundliche Frau kam heraus und lud mich ein, einzutreten. Sie bot mir Limonade an.

Drinnen saß ein in meinen Augen uralter Mann mit weißen Haaren gebeugt, offenbar frierend, jedenfalls hatte er ein Fell über die Beine gebreitet, blickte teilnahmslos vor sich hin, ohne mich anzuschauen. Ich starrte, ein bisschen enttäuscht, auf den berühmten Westmann und Kunstschützen Billy Jenkins. "Schau dich um", brummte er endlich. Der Wohnwagen roch muffig, ein bisschen nach Pissoir, war dämmrig und ärmlich eingerichtet, nicht gerade geräumig, aber voll gestopft; da waren so exotische Objekte wie Lassos, Pfeile etc., und vor allem Zeitungsausschnitte und Flugblätter an einer Wand, auch Fotos, die ihn Peitschen schwingend oder als Revolverschützen zeigten. Ein paar Cowboystiefel, mitgenommene farbige Plakate sind mir noch vor Augen, auch ein paar Indianerbilder und prächtiger Federschmuck, eine Peitsche, vor allem ein Tomahawk hatte es mir angetan.

Nachdem ich getrunken und mich umgesehen hatte, fragte ich schüchtern, ob ich wiederkommen dürfe. Jederzeit, meinte die nette Frau meines müden Helden. Das tat ich denn auch gleich am andern Tag. In der großen Pause hatte ich nämlich lebensbedrohliche Bauchschmerzen, geradezu Koliken, bekommen, deshalb war es mir unmöglich, weder an der Mathestunde noch gar am Turnen teilzunehmen, und ich konnte nach Hause gehen. 

Zu der netten Dame im Zirkuswagen durfte ich Tante Friedel sagen. Nachdem ich mit dem klapprigen Akrobaten einmal einen kleinen Spaziergang zum Park hin machen durfte, bekam ich von ihr wieder einen Becher Limonade und ein Butterbrot. Mir behagte nicht, dass von dem Helden so vieler Kämpfe auf Leben und Tod hier nur seine Erfolge in der Manege dokumentiert waren. Heute schien der alte Cowboy etwas aufgeräumter zu sein als gestern, und so traute ich mich denn, ihn auch zu fragen, wann er zuletzt mit Indianern und Banditen gekämpft und ob er alles, was man in den Heften lesen könne, wirklich selbst erlebt habe. Ich erinnere mich leider nicht mehr genau an seine Antwort. Sie muss etwas zweideutig ausgefallen sein, denn so zweideutig blieb sie mir im Gedächtnis: Nicht alles, was er in Wirklichkeit erlebt hätte, sei in den Romanheften zu finden.

Am nächsten Tag sollte eine Klassenarbeit in Latein geschrieben werden, auf die ich wieder nicht vorbereitet war. Ich verabschiedete mich nach dem Frühstück wie gewöhnlich von meiner Mutter, ging durch den Blücherpark, aber nur bis zum Wohnwagen. Billy Jenkins lag noch im Bett hinter einem halb geöffneten Vorhang, die nette Tante Friedel bot mir süßen Tee an. Auf meine zaghafte Bitte, Billys Revolver oder sein Gewehr mal sehen oder sogar anfassen zu dürfen, schüttelte sie lachend den Kopf. Sie zeigte mir stattdessen Postkarten, auf denen ihr Mann auf dem Pferd zu sehen war, mal mit Lasso, mal mit Büchse in der Hand, allein oder zwischen Rothäuten. So nach und nach begann sie, mir etwas aus seinem Leben zu erzählen, was für ein treffsicherer Messerwerfer er gewesen sei. Das nächste Mal brachte ich ein Fahrtenmesser, dass ich in einem Geschäft am Hansaring gekauft hatte. Billy mochte mir aber keine Probe seines Könnens zeigen und hielt meinen Hirschfänger mit Rehpfotengriff für völlig ungeeignet sowohl zur Vorführung als auch für den Unterricht, um den ich ihn schüchtern bat. Zum Abschied schenkte Tante Friedel mir eine goldene Anstecknadel. Ich verwahrte sie in meiner Schatztruhe.

Ach so ja, die vergrabene Kiste! Damals bin ich also doch nicht bis Indochina gekommen, sondern nur bis Koblenz. Dort in der Generalkommandantur der französischen Besatzungstruppen - eine prächtige Villa in einem parkähnlichen Garten - hat man mich ausgelacht, obwohl ich mich zwei Jahre älter gemacht hatte und das Fahrtenmesser am Gürtel trug. Mit der mir die Schamröte ins Gesicht treibenden saudummen Bemerkung, die Legion sei kein Kindergarten, schickte man mich fort. Ich könne wieder kommen, wenn ich achtzehn wäre. Traurig trampte ich zurück nach Köln. Ich war ziemlich sicher, dass ich bald von der Schule fliegen würde. Dann aber würde ich endgültig abhauen, notfalls als Schiffsjunge wie Graf Luckner.

Es kam alles anders. Die Kiste liegt immer noch vergraben im Blömeling. Irgendwann komme ich mal im Dunkeln mit meiner Taschenlampe hin und werde sie ausbuddeln. Parkwächter gibt es ja sicher keine mehr.